120 Josef Kohler, Staat und Recht.
den sozialen Zusammenhang harmlose Einzelphänomene,d. h. in viel geringerer Zahl auf-
treten. Während heute die hygienischen und sittlichen Schäden in einer „Kollektivschuld der Ge-
sellschaft‘‘ wurzeln (A. von Oettingen) und im Sinne der Rassenhygiene „kontraselektorisch‘“
wirken (C. Ploetz), werden sie in der „Freibürgerschaft‘ individuelles Schicksal sein und ‚selek-
torisch‘“ wirken. Die Tuberkulose z. B. rafft heute unzählige von Geburt aus „überdurchschnitt-
liche Konstitutionskräfte‘ dahin, während sie in der reinen Gesellschaft nur die „‚unterdurchschnitt-
lichen“,, ausjäten‘“ wird.
In der realen, „staatlich“ durchsetzten Gesellschaft liegt es schmerzlich anders. Schon
Aristoteles sprach aus, dass in einer von Klassengegensätzen zerspaltenen Gesellschaft weder po-
litische, noch moralische Sicherheit bestehe. Politische Eintracht ist unmöglich, denn „die Nationen
sind in zwei Völker gespalten, die sich gegenseitig feindlich belauern‘“, und die Oberklasse hat hier
die Laster der «ixix xxi poryeia (Hochmut und geschlechtliche Ausschweifung), während die
Unterklasse durch Knechtssinn und Unehrlichkeit befleckt wird (furtum est delictum servile).
Solche Folgen der Klassenscheidung sind unleugbar und verzweigen sich durch das ganze Leben der
Gesellschaft. Es ist hier nicht der Raum, um das weite Thema ausführlich zu behandeln; indessen
mögen einige Beispiele gegeben werden:
Wie sehr das gesellige Leben durch die Klassenunterschiede beeinflusst wird, bedarf keiner
näheren Ausführung. Nicht nur Hochmut oben und Knechtseligkeit unten, auch das üble Wesen
des Emporkömmlings, Parasitentum und Byzantinismus, politische und religiöse Heuchelei, wachsen
nur aus dieser Wurzel. Wo der Staat Prämien auf das Strebertum setzt und Zurücksetzung oder gar
Strafen auf den Freimut legt, kann die allgemeine Sittlichkeit kaum gedeihen. — Unsere Kriminal-
statistik berichtet vorwiegend von Eigentumsverbrechen; sie sind als Massenerscheinung in einer
reinen Gesellschaft undenkbar, ebensowenig Rohheitsverbrechen und solche Verbrechen und Ver-
gehen, die, wie Widerstand gegen die Staatsgewalt, vorwiegend aus der Empörung der Unterklasse
gegen den „Staat“ erwachsen. — Ebensowenig ist die Prostitution als Massenerscheinung hier denk-
bar, und zwar die legitime Prostitution der Versorgungs- und Geldehen ebensowenig, wie die ille-
gitime der Käuflichkeit. — Das religiöse Leben wird heute vergiftet und vergällt durch die Tatsachen,
dass die „Kirchen“ entweder selbst „politisches Mittel‘ sind oder doch als Staatskirchen dem
Klassen-Monopol dienen. — Diese Andeutungen müssen hier genügen.
11. Abschnitt.
a) Staat und Recht.
Von
Geh. Justizrat Dr. Josef Kohler, LL. D.,
0. Professor der Rechte an der Universität Berlin.
Literatur:
Meh-ti (chinesischer Philosoph), lidee de la solidarite (übersetzt von David) p.57 f. — Aristoteles,
Politik p. 1252. — Thomas von Aquin, Summa theol. | 2 qu. 90. — Dante Monarchia, I 16. —
Hugo Grotius, de jure belli ac pacis 1 1, 14 und 115, 23. — "Hobbes, Leviathan c. 14f. — Locke,
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naturae et gentium vl 1. — Vico, Scienza nuova (Ed. Nicolini) p. 1711. — Rousseau, Ocuvres IV p, 428,
p- 63 f. — Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, $44f. — Fichte. Grundlage des Natur-
rechts (1796) $ 17. — Ilegel, Rechtsphilosophie 8 182 f, 257 f. — Hegel’s Schriften zur Politik und Rechts
philosophie, herausgezxeben von G. Lasson. (1913). — dan. System der Rechtsphiiosophie, S. 162
389 f. — Nietzsche, Nachgelassene W erke, X11l 8.194f. — Spencer. Prinzipien der Soziologie Über,
setzung Vetter) 1 8. 522f. — Berolzheimer, System «er Rechts- und Wirtschaftsphilosophie TI.