244 Ferdinand Tönnies, Bürgerliche und politische Freiheit.
des Grundeigentums und Befreiung von seinen Lasten; Darstellung des absoluten und freien
Privat-Eigentums auch am Grund und Boden, gegenüber feudalherrlichen, gemeindlichen und
familienrechtlichen Einschränkungen. In nahem Zusammenhange mit den liberalen Neuerungen
in bezug auf A stehen die „sozialen Freiheitsrechte“ (A. Wagner), nämlich 1. das Recht
der freien Eheschliessung, 2. die Freiheitsrechte der räumlichen Bewegung,
nämlich a) das Freizügigkeits- und freie Niederlassungsrecht, b) das freie Reiserecht, c) das
freie Auswanderungsrecht. Diese Rechte sind innerhalb der modernen Staaten den Staats-
angehörigen, und mit einigen Modifikationen auch den Ausländern, durch spezielle Gesetz-
gebung gewährt worden. Mr Gesetze des Nordd. Bundes v. 4. V. 1868 über die Auf-
hebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschliessung, Reichsgesetz vom 6. II. 1975
über Beurkundung des Personenstandes und die Eheschliessung. Bayerische Heimat-Gesetze
vom 16. IV. 1868, 23. II. 1872, 21. IV. 1884. Gesetz des Nordd. Bundes über Freizügig-
keit vom 1. XI. 1867, über Unterstützungswohnsitz vom 6. VI. 1870, beide zu Reichsgesetzen
erklärt, jedoch das über Unterstützungswohnsitz ohne Geltung für Bayem und für das
Reichsland. Reichsgesetze sind auch die Gesetze des Nordd. Bundes über Passwesen vom
12. X. 1867 und über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit vom 1. VI. 1870 ge-
worden. — In bezug auf B haben die Gesetzgebungen der deutschen Einzelstaaten im Laufe
des 19. Jahrhunderts, besonders in dessen erster Hälfte, das geltende Recht begründet; durch
Akte, die zusammengefasst als „Bauernbefreiung“ beschrieben werden. In Frankreich war
die Revolution in diesen Tendenzen vorangeschritten. In Russland geschah die Aufhebung
der Leibeigenschaft durch Manifest vom 6. II. 1861. In Grossbritannien hat sich ein zum
össten Teile noch durch Anerben-Fideikomisse gebundener Grossgrundbesitz mit einem
System bäuerlicher und Gutsbetriebe in Pachtwirtschaften, gewohnheitsrechtlich und durch
„Privatbills“, mit Hilfe der Gerichtspraxis, entwickelt; — der „Freihandel in Land* ist
liberales Postulat geblieben; die gegenwärtige Regierung (1909,10) will ihn durch staatliche
Besteuerung des Bodens „nach dem gemeinen Werte“ befördern. Uebrigens gilt in allen
modernen Staaten heute Freiheit in bezug auf das Grundeigentum als Regel. Kraft einer
Gegentendenz haben sich aber in Deutschland, in Oesterreich und anderen Ländern die
Familien-Fideikommisse erhalten und vermehren können. Neue Bindungen bedeuten gleich-
falls die preussischen Gesetze über Rentengüter und die Beförderung der Errichtung solcher,
vom 27. VI. 1890 und vom 9. VI. 1891.
Die ganze Bewegung für ökonomische Freiheit wurde, wie diejenige für persönliche
und für allgemeine bürgerliche Freiheit, durch die naturrechtlichen Gedanken getragen. Jene
aber gestaltete sich auf dieser Basis zu einem System der volkswirtschaftlichen Zweck-
mässigkeit, das in der Idee des Geschehenlassens, des freien Handels nach innen und nach
aussen gipfelte („Manchestertum“). Man wollte die freie „Gesellschaft“ konstituieren, für
die der Staat nur als Schutzgewalt dienen sollte. Herbert Spencer (f 1903) ist der letzte
grosse philosophische Vertreter dieser Idee gewesen. — Gegen die Gesamtheit solcher liberalen
Prinzipien hat teils die Kritik der Vertreter älterer sozialer Systeme, die sich restaurieren
wollen, teils diejenige von Zukunftgedanken, die sich durch Reformierung oder Revolutionierung
der bestehenden „Gesellschaftsordnung“ durchzusetzen streben, Geltung und Macht gewonnen.
Jene haben mehr in bezug auf die Eatwieklung allgemeiner bürgerlicher Freiheit hemmend
gewirkt, diese haben in Gestalt der sozialpolitischen Gesetzgebung vielfach die ökonomische
bürgerliche Freiheit eingeengt und beschnitten. Gegen das sozialistische Ideal wehren sich
noch die liberalen Ideen als gegen einen Zwangsstaat. Hingegen lehrt der „wissenschaftliche
Sozialismus“, dass durch das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln die vollkommene
und gleiche bürgerliche und politische Freiheit erst verwirklicht werden könne.
8. Die Freiheit der geistigen Betätigung bedeutet 1. die freie Religionsübung, die
unter dem Namen der „Gewissensfreiheit“ sich in der öffentlichen Meinung verankert hat,
obgleich dieser Ausdruck unrichtig ist und keinen Rechtsbegriff bezeichnet; andere Namen
sind Glaubensfreiheit, Religionsfreiheit, Bekenntnisfreiheit. Ihr Wesen hängt mit der Stellung