Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

Grundzüge des römischen Privatrechts. 517 
V. Erbrecht!. 
8. 125. Einleitung 2. Das Verständnis des römischen Erbrechts bietet seit jeher außer- 
ordentlich große Schwierigkeiten. Auf keinem andern Gebiet fand Justinian so viel zu refor- 
mieren vor, ja nachdem die gesamte Kompilationsarbeit getan war, zeigte sich erst noch die 
Dringlichkeit neuer einschneidender Eingriffe, die Justinians Novellengesetze schlecht und recht, 
mehr schlecht, durchführten. Zum Teil galt es damals die griechisch-byzantinischen Einflüsse 
zu bewältigen. Fast darf man aber annehmen, das Erbrecht sei schon den römischen Juristen 
selbst nur halb durchsichtig gewesen. Das Rechtsmaterial war aufgeschichtet aus den Perioden 
sehr alten Gewohnheitsrechts und einzelner republikanischer Gesetze, des besonders mächtig 
einwirkenden prätorischen Amtsrechts, der älteren und neuen Keisergesetze. Die prätorische 
Handhabung der Rechtsgangmittel war zu einem System entwickelt, das große Stücke des 
Zivilrechts überdeckte, ohne es theoretisch oder auch nur durchwegs praktisch zu beseitigen, die 
Neuerungen der Senatuskonsulte und Kaisererlässe ergänzten dementsprechend zum Teil das 
zivile, zum Teil das Honorarrecht, unorganisch stellten sich hinein die Kaduzitätsvorschriften 
der Ehegesetze. Die Jurisprudenz vermochte trotz starker Anstrengung das vielartige Gemenge 
nicht gründlich zu verarbeiten. Im Erbrecht hat sich das Stück= und Flickwerk der privatrechtlichen 
Normenschaffung am schlimmsten gerächt. Warum gerade hier, während sonst oft die Evolution 
segensreich wirkte, beruht nicht bloß auf der positivrechtlichen Natur der meisten Teile des Erb- 
rechts. Es ist dasjenige Rechtsgebiet, wo die Bevölkerung an den hergebrachten Sätzen auch 
nach gänzlicher Veränderung der sozialen Grundlagen zu hängen pflegt. Offenbar sind die 
gesellschaftlichen Bedürfnisse der vielen Jahrhunderte der Entwicklung niemals wirklich be- 
friedigt worden. Jede Epoche nahm Gewohnheiten, Gesetze und Begriffe mit sich, deren Ver- 
1 Vering, NRöm. Erbrecht 1861; Köppen, System des heut. röm. Erbrechts 1862, 
1864; Lehrb. 1886—1895; Unger, Syst. d. öst. allg. Privatr. 6 (1864); Costa, Papiniano 
3 (1896); Fa dda, Concetti fondamentali del diritto ereditario rom., Nap. 1900, 1902; Kniep, 
Gai. Ist. 3, I 1—87 (1914); einen Abriß der Hauptsätze bietet Manigk in Realenz., Heredi- 
tarium ius (1914). 
Zum griechischen Recht und zu den Papyri neuere Lit. bei Mitteis, Godz. 231; ferner 
Arangio-Ruiz, Osservazioni sul sistema della successione leggitima (Studi econ.-giur. 
Fac. Giur. Cagliari) 1913. VBon Wert bleibt Bruns, Die Testamente der griech. Philosophen, 
ZSav St. 1, 1, und Schulin, Das griech. Testament, verglichen mit dem römischen 1882. 
Für die Schwierigkeiten, die das römische Erbrecht den Provinzialen verursachte, sind die Dar- 
legungen Küblers, ZSavsSt. 28 und 29, sehr lehrreich. 
à v. Woeß, Das röm. Erbrecht und die Erbanwärter, 1911, kritisiert drei Arten der Be- 
urteilung des römischen Erbrechts während des 19. Jahrhunderts: die „modernistischen“, die 
Römer bitter tadelnden Schriftsteller (Dankwardtg), die „germanistische“, von Hegel be- 
einflußte Richtung (Gans,), die die deutschrechtlichen Gedanken voranstellt, und die „mnystische“ 
(Lassalle): der Erbe sei Nachfolger in die Person des Erblassers. Diese drei Richtungen sind 
natürlich nicht gegensätzliche Theorien. Heute scheiden sich die Bearbeiter vor allem danach, 
welchen Ausgangspunkt sie für die Erklärung der römischen Sätze wählen. Dabei wird die 
Rechtsvergleichung (s. u.) in verschiedenem Sinn verwendet: 1. Die einen gehen von einer 
familienrechtlichen Sukzession des Erben in die Stellung des Erblassers aus. a) Ahnlich Lassalle 
viele Deutsche, jetzt besonders Mitteis, PR. 93, 96: „Die transzendente Vorstellung der Un- 
sterblichkeit des Individuums in seinem Samen ist der Ausgangspunkt des römischen Erbrechts.“ 
„Nicht das Vermögen, sondern die Persönlichkeit wird ererbt.“ Noch entschiedener Manigk 
625 f. b) Die in Italien stark verbreitete Lehre von Scialoja, Bull. 3, 176 und Bon- 
fante, Ist. 5 509 N. 2 (mit Zit. und Geschichte dieser Lehre) betont den Ubergang der 
„souveränen Autorität der Familiengewalt“, dessen Folge erst der Eintritt in das Vermögen ist. 
2. Andere vertreten eine rationalistische Erklärung im Sinne Iherings. Darin treffen neuer- 
dings zusammen: v. Wveß, a. a. O.: Die Rechtsordnung beabsichtigt jeweils einc richtige 
Vermögensverteilung, z. B. in der Epoche der schrankenlosen Testierfreiheit, indem sic dem Ver- 
antwortlichkeitsgefühl des Erblassers und seiner Kenntnis der Sachlage vertraut; Koiman, 
Fragmenta iuris (yuiritinm. Amsterdam 1914 (die Frucht zwanzigsähriger Privatstudien): faßt 
bewußt nach dem Vorbild Iherings die Erbrechtsgesetze als Bekämpfung von Praktikerschlichen 
auf; Lenel (s. nächste Note): der Begriff des testamentarischen Erben hat sich im Zusammen- 
hang mit der Schuldenhaftung gebildet. 3. Die von den Gemeinrechtlern vorwiegend an das 
röm. Recht herangebrachte moderne Vorstellung des Vermögensüberganges als solchen teilt heute 
kaum mehr ein Historiker rücksichtlich derjenigen älteren Epoche, in welcher die maßgebenden 
Prinzipien entstanden sein müssen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.