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Die Stellung des Häuptlings ist eine patri-
archalische. Jedes Mitglied des Stammes schuldet
ihm persönlich Treue und Gehorsam und ist ihm
ohne Entgelt zu Dienstleistungen verpflichtet, wenn
es des Häuptlings oder des Stammes Interesse
erfordert. Anderseits haben aber die Stammes-
angehörigen das Recht, gewisse Stammesländereien
gemeinschaftlich zu benutzen.
Der Häuptling leitet die Geschicke des Stammes,
er regiert aber nicht absolut, gewisse Einrichtungen
zwingen ihn vielmehr, bei wichtigeren Handlungen
auch den Rat angesehener Untertanen einzuholen.
Der Häuptling ist ferner erster Richter seines
Stammes und ohne seine Sanktion darf keine
Anderung in den überlieferten Gebräuchen vorge-
nommen werden.
lber dem Häuptling stand häufig noch ein
Oberhäuptling (Parameunt Chiek), der eine Gruppe
von Stämmen unter seiner Herrschaft vereinigte.
Die Vorzüge des Stammessystems bestanden
darin, daß es von den Eingeborenen vollkommen
verstanden wurde, und sic zu dem Gefühl gegen-
seitiger Verantwortlichkeit und zum Gehorsam gegen-
über der Obrigkeit erzog. Es brachte ferner ein
sicheres System der Kontrolle mit sich, da jeder
Kraalinsasse dem Kraalsvater, jeder Kraalsvater
seinem Häuptling und jeder Häuptling seinem Cber-
häuptling verantwortlich war.1)
Bei der Autorität, die dem Häuptling in der
Stammesverfassung eingeräumt war, ist es selbst-
verständlich, daß er auch ein Hauptfaktor der Rechts-
bildung sein mußte. Vor allem kamen dabei natür-
lich die großen Häuptlinge in Betracht, die Recht
schaffen konnten. Wie weit sie dabei von ihren
Ratgebern beeinflußt wurden, kam auf ihre perfön-
lich erworbene oder verfassungsmäßige Unabhängig-
keit an, die bei den einzelnen Völkern Verschiedenheiten
zeigte. Bei den Kaffern berieten die Häuptlinge
den Gesetzesplan meist mit ihren Ratgebern und
ließen sich wohl auch von ihnen bestimmen. Bei
den Zulu dagegen war die Herrschaft des Häupt-
lings eine unumschränktere, bei den Basutos wiederum
waren die Rechte des Volkes slärker entwickelt.?)
Konnten die gewöhnlichen Häuptlinge auch nicht
Recht schaffen, „jus facere“, so vermochten sie doch
„jus dicere“ in den von ihnen in den Gerichts-
höfen gefällten Entscheidungen, und trugen dadurch
zur Rechtsbildung bei, vorausgesetzt natürlich, daß
1) Das reine Stammessystem hat zwar unter der
Einwirkung von Verwaltungsmaßregeln und der Gesetz-
gebung der Kolonialregierungen sowie unter dem Ein-
flusse der Zivilisation Anderungen erfahren, aber die
Grundlagen sind vielfach erhalten geblieben und
das Sy#tem ist der Verwaltung dienstbar gemacht.
Vgl. Sec. 218 Report.
2) Vgl. The JNatives of South Africa S. 21, 37, 39.
Der Rat des Häuptlings seutzt sich zusammen aus den
kleineren Unterhäuptlingen und anderen Männern von
besenderem Ansehen oder Verdienst. Vgl. Maclean,
S. 21.
sie ein derartiges Ansehen genossen, daß ihre Ent-
scheidungen in der Uberlieferung erhalten blieben
und auch späteren Generationen noch von autori-
tativer Bedeutung in Rechtsfragen erschienen.
Was die Gültigkeit des Eingeborenen-Rech:s
nach der Einführung europäischen Regiments in
Südafrika anbetrifft, so darf es nach den Ermitt-
lungen der Native Affairs Commission (Scc. 216
Report) als allgemeine Erfahrung hingestellt werden,
daß von den Rechten, Gebräuchen und (Gewohn-
heiten der Eingeborenen nur das ausfgehoben oder
verboten ist, was den allgemeinen Prinzipien der
Humanität und Zivilisation widersprach. Dagegen
ist das Recht häufig modifiziert worden. Ein ge-
waltsamer und radikaler Eingriff in die überlieferten
Rechtsverhältnisse der Eingeborenen könnte auch
nicht anders als verhängnisvoll sein, da viele Be-
standteile ihrer Rechte und Gewohnheiten eng mit
ihren sozialen Verhältnissen verknüpft sind, und eine
Anderung der Rechte eine gefährliche Umwälzung
bedeuten und Unzufriedenheit erregen müßte. Die
Native Affairs Commission empfiehlt deshalb auch
(Sec. 233) auf Grund dieser Beobachtung, die
Verbesserung des für die Eingeborenen geltenden
Rechts und seine Assimilation an das Kolonialrecht
zwar im Auge zu behalten, aber nicht vorschnell
herbeizuführen.
Erkennt man aber die Gültigleit von Einge-
borenen- Necht in engeren oder weiteren Grenzen
i, so entsteht weiter die Notwendigkeit, ein Mittel
zu finden, nichteingeborenen Richtern das Einge-
borenen-Recht zugänglich zu machen. Die Kom-
mission spricht sich in Sec. 232 dagegen aus, das
Eingeborenen-Recht in einem Code als Gesetz fest-
zulegen, und hält es für richtiger, das Recht nur
zu einem Handbuch zusammenzufassen als Nach-
schlagebuch, um die Schwierigkeiten der Feststellung
des Eingeborenen-Rechts dem einzelnen zu er-
leichtern und dadurch cine größere Gleichförmigkeit
in der Anwendung des Rechts herbeizuführen.
Gegen die Festlegung des Eingeborenen-Rechts
in einem Gesetzbuche läßt sich einwenden, daß die
Rechtsgebräuche der Eingeborenen infolge der mannig-
fachen Einwirkungen von außen in steter Entwick-
lung begriffen sind, und eine Kodifizierung des
Rechts eine gewisse Erstarrung in den alten Formen
bringen müßte, während ein einsaches Textbuch
natürlich ohne große Schwierigkeiten immer der
Rechtsentwicklung entsprechend richtiggestellt werden
könnte, und auch bei der Rechtsprechung nicht den-
selben Zwang ausübt wie ein Gesetzbuch.
Von dem Eingeborenen-Recht zu unterscheiden
ist das Recht der Kolonie, welches wiederum in
Kolonialrecht und Sonderrecht der Eingeborenen
eingeteilt werden kann. Unter Kolonialrecht möchte
ich sowohl das Recht, welches von den Engländern
bei der Ubernahme der Kolonie unter den euro-
pdischen Bewohnern derselben vorgefunden ist, als
auch das von der Gesetzgebung der Kolonie unter