Full text: Deutsches Kolonialblatt. XX. Jahrgang, 1909. (20)

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Die Stellung des Häuptlings ist eine patri- 
archalische. Jedes Mitglied des Stammes schuldet 
ihm persönlich Treue und Gehorsam und ist ihm 
ohne Entgelt zu Dienstleistungen verpflichtet, wenn 
es des Häuptlings oder des Stammes Interesse 
erfordert. Anderseits haben aber die Stammes- 
angehörigen das Recht, gewisse Stammesländereien 
gemeinschaftlich zu benutzen. 
Der Häuptling leitet die Geschicke des Stammes, 
er regiert aber nicht absolut, gewisse Einrichtungen 
zwingen ihn vielmehr, bei wichtigeren Handlungen 
auch den Rat angesehener Untertanen einzuholen. 
Der Häuptling ist ferner erster Richter seines 
Stammes und ohne seine Sanktion darf keine 
Anderung in den überlieferten Gebräuchen vorge- 
nommen werden. 
lber dem Häuptling stand häufig noch ein 
Oberhäuptling (Parameunt Chiek), der eine Gruppe 
von Stämmen unter seiner Herrschaft vereinigte. 
Die Vorzüge des Stammessystems bestanden 
darin, daß es von den Eingeborenen vollkommen 
verstanden wurde, und sic zu dem Gefühl gegen- 
seitiger Verantwortlichkeit und zum Gehorsam gegen- 
über der Obrigkeit erzog. Es brachte ferner ein 
sicheres System der Kontrolle mit sich, da jeder 
Kraalinsasse dem Kraalsvater, jeder Kraalsvater 
seinem Häuptling und jeder Häuptling seinem Cber- 
häuptling verantwortlich war.1) 
Bei der Autorität, die dem Häuptling in der 
Stammesverfassung eingeräumt war, ist es selbst- 
verständlich, daß er auch ein Hauptfaktor der Rechts- 
bildung sein mußte. Vor allem kamen dabei natür- 
lich die großen Häuptlinge in Betracht, die Recht 
schaffen konnten. Wie weit sie dabei von ihren 
Ratgebern beeinflußt wurden, kam auf ihre perfön- 
lich erworbene oder verfassungsmäßige Unabhängig- 
keit an, die bei den einzelnen Völkern Verschiedenheiten 
zeigte. Bei den Kaffern berieten die Häuptlinge 
den Gesetzesplan meist mit ihren Ratgebern und 
ließen sich wohl auch von ihnen bestimmen. Bei 
den Zulu dagegen war die Herrschaft des Häupt- 
lings eine unumschränktere, bei den Basutos wiederum 
waren die Rechte des Volkes slärker entwickelt.?) 
Konnten die gewöhnlichen Häuptlinge auch nicht 
Recht schaffen, „jus facere“, so vermochten sie doch 
„jus dicere“ in den von ihnen in den Gerichts- 
höfen gefällten Entscheidungen, und trugen dadurch 
zur Rechtsbildung bei, vorausgesetzt natürlich, daß 
1) Das reine Stammessystem hat zwar unter der 
Einwirkung von Verwaltungsmaßregeln und der Gesetz- 
gebung der Kolonialregierungen sowie unter dem Ein- 
flusse der Zivilisation Anderungen erfahren, aber die 
Grundlagen sind vielfach erhalten geblieben und 
das Sy#tem ist der Verwaltung dienstbar gemacht. 
Vgl. Sec. 218 Report. 
2) Vgl. The JNatives of South Africa S. 21, 37, 39. 
Der Rat des Häuptlings seutzt sich zusammen aus den 
kleineren Unterhäuptlingen und anderen Männern von 
besenderem Ansehen oder Verdienst. Vgl. Maclean, 
S. 21. 
  
sie ein derartiges Ansehen genossen, daß ihre Ent- 
scheidungen in der Uberlieferung erhalten blieben 
und auch späteren Generationen noch von autori- 
tativer Bedeutung in Rechtsfragen erschienen. 
Was die Gültigkeit des Eingeborenen-Rech:s 
nach der Einführung europäischen Regiments in 
Südafrika anbetrifft, so darf es nach den Ermitt- 
lungen der Native Affairs Commission (Scc. 216 
Report) als allgemeine Erfahrung hingestellt werden, 
daß von den Rechten, Gebräuchen und (Gewohn- 
heiten der Eingeborenen nur das ausfgehoben oder 
verboten ist, was den allgemeinen Prinzipien der 
Humanität und Zivilisation widersprach. Dagegen 
ist das Recht häufig modifiziert worden. Ein ge- 
waltsamer und radikaler Eingriff in die überlieferten 
Rechtsverhältnisse der Eingeborenen könnte auch 
nicht anders als verhängnisvoll sein, da viele Be- 
standteile ihrer Rechte und Gewohnheiten eng mit 
ihren sozialen Verhältnissen verknüpft sind, und eine 
Anderung der Rechte eine gefährliche Umwälzung 
bedeuten und Unzufriedenheit erregen müßte. Die 
Native Affairs Commission empfiehlt deshalb auch 
(Sec. 233) auf Grund dieser Beobachtung, die 
Verbesserung des für die Eingeborenen geltenden 
Rechts und seine Assimilation an das Kolonialrecht 
zwar im Auge zu behalten, aber nicht vorschnell 
herbeizuführen. 
Erkennt man aber die Gültigleit von Einge- 
borenen- Necht in engeren oder weiteren Grenzen 
i, so entsteht weiter die Notwendigkeit, ein Mittel 
zu finden, nichteingeborenen Richtern das Einge- 
borenen-Recht zugänglich zu machen. Die Kom- 
mission spricht sich in Sec. 232 dagegen aus, das 
Eingeborenen-Recht in einem Code als Gesetz fest- 
zulegen, und hält es für richtiger, das Recht nur 
zu einem Handbuch zusammenzufassen als Nach- 
schlagebuch, um die Schwierigkeiten der Feststellung 
des Eingeborenen-Rechts dem einzelnen zu er- 
leichtern und dadurch cine größere Gleichförmigkeit 
in der Anwendung des Rechts herbeizuführen. 
Gegen die Festlegung des Eingeborenen-Rechts 
in einem Gesetzbuche läßt sich einwenden, daß die 
Rechtsgebräuche der Eingeborenen infolge der mannig- 
fachen Einwirkungen von außen in steter Entwick- 
lung begriffen sind, und eine Kodifizierung des 
Rechts eine gewisse Erstarrung in den alten Formen 
bringen müßte, während ein einsaches Textbuch 
natürlich ohne große Schwierigkeiten immer der 
Rechtsentwicklung entsprechend richtiggestellt werden 
könnte, und auch bei der Rechtsprechung nicht den- 
selben Zwang ausübt wie ein Gesetzbuch. 
Von dem Eingeborenen-Recht zu unterscheiden 
ist das Recht der Kolonie, welches wiederum in 
Kolonialrecht und Sonderrecht der Eingeborenen 
eingeteilt werden kann. Unter Kolonialrecht möchte 
ich sowohl das Recht, welches von den Engländern 
bei der Ubernahme der Kolonie unter den euro- 
pdischen Bewohnern derselben vorgefunden ist, als 
auch das von der Gesetzgebung der Kolonie unter
	        
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