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dazu, daß der Wortführer der englischen Vertreter,
der Gesandte Sir Arthur Hardinge, am 16. Fe-
bruar den förmlichen Antrag stellte, alle in Be-
tracht kommenden Vertragskarten im Original
vorzulegen, wozu sich die belgischen Vertreter nach
einigem Zögern unter Aufrechterhaltung ihres
Rechtsstandpunktes bereit erklärten.
Von den deutschen Vertretern wurde der An-
trag Sir Arthurs lebhaft unterstützt. Das geschah
aus einem besonderen Grund.
Bei den Vorbereitungen für die Verhandlungen
in Brüssel waren die alten, sehr umfangreichen
Akten der Berliner Kongokonferenz einer genauen
Durchsicht unterzogen worden. Hierbei war in
seit jener Zeit unbeachtet gebliebenen Beiakten
ein Bericht des Kaiserlichen Botschafters in Paris
vom 30. Juni 1885 aufgefunden worden, mit
dem einige Exemplare einer, von Herrn E. Des-
buissons entworfenen Karte von Zentralafrika,
welche mir von der hiesigen Regierung zur Ver-
fügung gestellt worden sind, überreicht wurden.
Herr Desbuissons war Kartograph und lang-
jähriger Archivar der Kartensammlung des fran-
zösischen Ministeriums des Außern. Er war den
Berliner amtlichen Kreisen durch seine Teilnahme
an Grenzverhandlungen über Togo usw. als ein
alter, höchst bedächtiger, erfahrener und vorsich-
tiger Beamter wohl bekannt. Nach Schluß der
Kongokonferenz hatte er diese Karte: Partie de
Afrique Equatoriale pour suivre les travaux
de la Conférence de Berlin in 1:12 000 000
herausgegeben. Wenn diese Karte auch nicht als
eine offizielle der französischen Regierung bezeichnet
werden konnte, so war sie doch jedenfalls von
dem kompetentesten französischen Fachmann, dem
alles amtliche Material des Ministeriums zur
Verfügung stand, verfaßt. Wenn die französische
Regierung ihre Richtigkeit nicht anerkannt hätte,
würde sie dieselbe auch nicht auf amtlichem Wege
an die interessierten fremden Staaten zur Ver-
teilung gebracht haben. Ein Blick auf diese Karte
ergab die höchst überraschende Tatsache, daß
auf ihr die französisch-kongolesische Grenze nördlich
vom Tanganjika völlig mit der deutschen Grenze
nach dem Vertrag vom 8. November 1884 zu-
sammenfiel. Ebenso wie dieser zeigte sie die
weite Ausbuchtung nach XW gegen den „Luta
Nsige“ und keine Spur von einer französischen
Grenze, die dem ebenfalls eingetragenen Russisi-
lauf und Kiwusee gefolgt wäre. (Vgl. Karten-
beilage Nr. 5.)
Diese Wahrnehmung ließ den Verdacht auf-
kommen, daß es mit den von der Association der
Reichsregierung bekanntgegebenen und vorgelegten
Vertragskarten nicht seine Richtigkeit zu haben
scheine. Deshalb konnte der englische Antrag,
sämtliche Vertragskarten im Original der Kom-
mission vorzulegen, nur willkommen sein. Die
Vorlegung erfolgte am 18. Februar 1910. Sie
zeitigte merkwürdige Befunde. Die in Berlin
aufbewahrte Karte zu dem Vertrag vom 8. No-
vember 1884 stimmte mit dem in Brüssel befind-
lichen Exemplar völlig überein, wie das auch
kaum anders sein konnte, da das deutsche Exem-
plar nur eine auf Pauspapier hergestellte Kopie
des kongolesischen war. (Vgl. Kartenanlage Nr. 2.)
Das seinerzeit dem Fürsten Bismarck über-
reichte Exemplar der Karte zu dem französisch-
kongolesischen Vertrag vom 5. Februar 1885, von
dem Präsidenten der Association, Oberst Strauch,
mit seinem Stempel und Namensunterschrift als
konform mit dem Original beglaubigt, wies gegen
letzteres merkwürdige Differenzen auf. Zwar folgte
auf beiden Karten die Grenze im Norden des
Tanganjika dem Russisi und schloß den Kiwusee
aus. Während aber auf dem Berliner Exemplar
die Grenze von 1° südl. Br. an bis zum 4.5
nördl. Br. dem 30. Meridian folgte, bog sie auf
dem Brüsseler Dokument von 1° südl. Br. nach
Nordost ab und erreichte den 2.7 nördl. Br. unter
etwa 31° 40“ östl. Gr., welchen Meridian sie bis
4 nördl. Br. entlanglief. Sie umschloß damit
den Albert-Sce sowie einen Teil des Niltals nörd-
lich von diesem See. Aus dieser Darstellung ging
hervor, daß zwischen der Association und Frank-
reich Abmachungen besonderer Art bestanden haben
mußten, deren Kenntnis man Berlin und wohl
der Offentlichkeit überhaupt hatte vorenthalten
wollen. (Vgl. Kartenanlage Nr. 6.)
Die Karte zu dem belgisch-kongolesischen Ver-
trag vom 23. Februar 1885 zeigte ebenfalls nicht
unwesentliche Unterschiede. Auf dem nach Berlin
übersandten, von Oberst Strauch ebenfalls be-
glaubigten Exemplar folgte die Grenze ganz dem
Russisi, ging dann aber quer durch den Kiwusee,
um den 30. Meridian genau unter dem 1. südl.
Br. zu treffen und diesem dann bis 4° nördl. Br.
zu folgen. (Vgl. Kartenanlage Nr. 7.) Auf dem
in Brüssel verwahrten Exemplar dagegen verlief
die Grenze deutlich östlich des Russisi nach Norden,
umschloß den Kiwusee und schnitt den 30. Meri-
dian unter etwa 1° 40“° (genauer unter 1° 370
südl. Br., bog dann deutlich weiter nach Osten
aus und erreichte den 30. Meridian erst wieder
unter etwa 0" 20“ südl. Br., um ihm dann weiter
nach Norden bis 4° nördl. Br. zu folgen. (Vgl.
Kartenanlage Nr. 8.)
Damit erklärte sich plötzlich, wie die Neutra-
litätserklärung dazu gekommen war, den Aus-
gangspunkt der geraden Grenzlinie zum Tan-
ganjika nicht auf den 1.5 füdl. Br. zu verlegen,
sondern ihn weiter nach Süden auf 1° 20/ südl.
Br. zu rücken, eine willkürliche Anderung gegen-
über den Festsetzungen der Vertragskarten vom