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Dieser Zustand war am Kongo so bekannt
und vor allem den Justizbeamten so bewußt, daß
ein kongolesischer Richter, Dr. Büchler,
Schweizer von Geburt und Verfasser eines viel-
beachteten Werkes: „Der Kongostaat Leopolds II.“
ein
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sich über diese Verhältnisse bei offener Tafel der
Station Lusambo aufhalten konnte. Er sagte
einem belgischen Leutnant: „Des traités d'extra-
dition existent entre I’Etat Indépendant et les
Colonies voisines, mais il n’existe pas de traité
semblable entre la Belgique et I'Etat Indépen-
dant, sinon la plupart des officiers belges
seraient en prison à Boma et c’'’est pour ce
motif que cela Mexiste pas.“
Das war natürlich ein Irrtum, zeigt aber
nur, daß der Auslieferungsvertrag so wenig in
Anwendung kam, daß selbst ein Richter von seiner
Existenz nichts wußte. Über diese Außerung zur
Rede gestellt, erklärte derselbe am 3. Februar 1906
schriftlich: „Puisque je m’'adressais à un officier
belge, je trouvais bon d’exemplifier ma these
(difficultes enormes due rencontre ici la justice
Pour suivre sa marche régulière) en le ren-
dant attentif sur le fait qu'il y a entre autre
bon nombre d'officiers belges contre lesquels
la justice avait été saisie, sans due L’on ait put
donner suite à ces affaires, avant tout, parce
due ces messieurs se trouvaient en Europe,
bien avant due le Parquet ait seulement put
Stablir s'il y# a lieu à des poursuites judicaires
ou non. Voild le sens de mes paroles, quant
aux termes exacts due j'’ai employt je ne m'en
souviens plus, mais du moment, qurils ont
froissé plusieures personnes qui 6taient présen-
tes, je puis vous certifier due mes expressions
doivent avoir dépassé ma pensée, et qdue je
mai jamais eu l’intention d’offenser le corps
’officiers belges. La maladresse grave que
j'ai commise dans cette discussion Ciétait
d’edxemplifier par des „officiers belges- au
lieu de pariler tout simplement »d' Européens«
Oou de blanes.“
Am 29. März 1906 schreibt der Procureur
d'Etat Waleffe an den General-Gouverneur
über diesen Zwischenfall:
„M. Büchler a eu tort de parler comme il
I’a fait au mess de Lusambo. II Ic reconnait
d'ailleurs lui-meme dans sa lettre du 3. 2.
Nr. 25/I et ajoute qu’il n'a jamais eu l'inten-
tion d’offenser duelqu'un. Ces Ccarts de lan-
gage sont deplorables surtout chez un magistrat.
Ils n'’ont cependant pas la portée qu'’on veut
leur donner. M. Büchler a voulu dire qu’'il
yJavait des gens qui réussinent à se soustraire
à Paction de la Justice en rentrant en Belgique
et c’est un fait vrai, beaucoup y sont
·
dans une quiétude parfaite. II s#yest ex-
prims très maladroitement puisqu'il commettait
une erreure de droit: iI y a un traité aveec
la Belgique mais il ne prescrit naturellement
pas aux contractants de se livrer rériproque-
ment leurs nationaux.“
Da Dr. Büchler'") einen sehr wunden Punkt
der kongolesischen Justiz berührt hatte, den man
nicht gern aufrühren mochte, ist es begreiflich,
daß diese Sache keine weiteren unmittelbaren
Folgen für ihn hatte.
Zu welchen Mißständen und Ungerechtigkeiten
die geradezu systematische Nichtanwendung des
bestehenden Auslieferungsvertrages mit Belgien
den alten Kongostaat führten, das sei hier nur
aus einem Beispiel aus den Akten dargelegt.
Im März 1891 war der Sergeant des
Linieninfanterie-Regiments Nr. 9 Edmond Til-
kens als Sergent de la Force Publique mit
einem Anfangsgehalt von 1500 Fr. in die Dienste
des Kongostaates getreten. Er rückte zum Unter-
leutnant auf und kehrte nach Ablauf seiner ersten
Dienstperiode im April 1896 nach Belgien zurück.
Im November 1897 sehen wir ihn mit einem
Gehalt von 3000 Fr. nach dem Kongo zurück-
kehren, wo er nach Djabir am lelle geschickt
wird. Im Februar 1898 erhält er den Libokwa-
*) Dr. Büchler war nur kurze Zeit im Dienst des
Kongostaates. Er wurde am 6. Januar 1906 ange-
nommen und kehrte bereits am 21. Oktober 1006 aus
Privatgründen nach Antwerpen zurück. Seine späteren
Gesuche um Wiederverwendung fanden, wie nach dem
oben Mitgeteilten begreiflich erscheint, keine Berücksich-
tigung. Am 25. November 1913 wurde er endgültig
mit der Begründung abgewiesen: „II est potammem
de rzle qdue les anciens konctionngires se et
agents dul nm: à un woment donné realisé leur in-
tention de quitter définitivement le service ne som
plus atgrées, au surplus le personecl colonial cst au
complet.“ Die Rücksicht auf die Hoffnung einer Wieder-
anstellung hat Dr. Büchler, wie man anerkennen muh,
nicht abgehalten, die Verhältnisse des Kongostaates in
seinem Buch in tunlich objektiver Weise darzustellen.
Freilich ist das Schlußkapitel über „Das- sogenannte
leopoldinische System“ nicht viel mehr als eine sach-
liche Zusammenstellung der verschiedenen, in der ernsten
wissenschaftlichen Kongoliteratur hervorgetretenen An-
sichten über diese Materie. Sie geht weniger darauf
aus, selbst zu urteilen, als dem Leser zuverlässiges
Material zur eigenen Ulrteilsfällung zu unterbreiten.
Bei der ausgesprochenen marxistischen Denk= und An-
schanungsweise Dr. Büchlers, die in dem modernen
Kolonialwesen nur den Versuch der Kapitalistenklasse
erblickt, Länder mit fremder ökonomischer Struktur in
den kapitallstischen Reproduktionsprozeß einzubeziehen.
so daß es gar keine Arbeiks-, sondern nur noch Aus-
Euinoskolrnen gibt, ist nur das eine unverständlich
daß er es über sich gewinnen konnte, sich selbst in die
Dienste eines solchen Systems zu stellen bzw. daß er,
nachdem er das Wesen der kongolesischen Kolonisation
während seiner ersten Dienstperiode kennen gelernt
hatte, noch Wert darauf legte, nach dem Kongo zurück-
zukehren.