Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 64. Der Begriff der Verwaltung. 187 
Rechts. Indem die Verwaltung innerhalb der vom Rechte gezogenen 
Schranken für die Befriedigung der staatlichen und gesellschaftlichen 
Bedürfnisse Sorge trägt, führt sie zu neuen Rechtssätzen. Gerade so 
wie der Geschäftsverkehr der Individuen das Privatrecht langsam, aber 
stetig weiter ausbildet und aus dem stets wiederkehrenden, stereotypen 
Inhalte der Rechtsgeschäfte erst Gebräuche, dann Rechtssätze 
schafft, welche als Gewohnheitsrecht oder durch gesetzliche Anerken- 
nung bindende Kraft erlangen, so erzeugt auch die gleichmäßige in 
unzähligen Fällen wiederholte und den Bedürfnissen des Staates ent- 
sprechende Geschäftstätigkeit der Behörden erst eine Verwaltungstradi- 
tion und endlich Sätze des Öffentlichen Rechts. Das Recht selbst ist 
gleichsam nur der Niederschlag und die Fixierung der vorangegangenen 
Entwicklung; die Bedürfnisse des wirtschaftlichen und staatlichen Zu- 
sammenlebens sind immer früher da, als die Rechtssätze, welche bei 
normalen Zuständen ihr Erzeugnis sind. Wenn auch das vorhandene 
Recht Form und Inhalt der Rechtsgeschäfte beherrscht und für die 
weitere Entwicklung ein wesentlich mitbestimmendes Moment ist, so 
ist doch das Recht niemals ein fertig abgeschlossenes, d. h. totes, son- 
dern ein stets fortschreitendes, veränderliches. Dies ist nicht nur hin- 
sichtlich des Privatrechts, sondern in demselben Maße für das öffent- 
liche Recht wahr. Immer neue Lebensverhältnisse entstehen und er- 
zeugen neue gesellschaftliche Mißstände und Bedürfnisse und damit 
immer neuestaatliche Aufgaben und Tätigkeiten. Das vorhandene Recht 
genügt deshalb niemals vollständig sämtlichen Bedürfnissen der Gegen- 
wart, es ist immer nur das Resultat der Vergangenheit. Die Verwal- 
tung muß den Bedürfnissen der Gegenwart abhelfen, und indem sie 
innerhalb der Schranken der Rechtsordnung beginnt, führt sie all- 
mählich eine Umgestaltung, Erweiterung und Fortbildung der Rechts- 
ordnung herbei. Unter Umständen kann dieser Einfluß ein so ge- 
waltiger sein, daß die alte Rechtsordnung dadurch völlig verändert 
wird. Das alte ius civile der Römer erlag den Amtsverordnungen der 
Prätoren und Aedilen, dem ius honorarium; das alte Volksrecht der 
germanischen Stämme verschwand vor den Beamteninstruktionen, 
welche die merovingischen und karolingischen Könige in ihren Ka- 
pitularien erteilten; das gemeine Landrecht des späteren Mittelalters 
wurde auf das gründlichste umgestaltet und in allen seinen Teilen ver- 
ändert und fortgebildet durch die Verwaltungsverordnungen der Stadt- 
magistrate; das aus dem Mittelalter überkommene Recht machte einem 
ganz neuen Rechte Platz, welches seine Ausbildung durch die Instruk- 
tionen und Verwaltungsverordnungen erhielt, die die Landesherren ihren 
Amtmännern, ihren Rentmeistern, ihren Hof- und Kammerrichtern, 
mit einem Worte ihren Beamten, erteilten. 
Die Verwaltungstätigkeit des Staates ist sonach zugleich Hand- 
habung und Erzeugung des öffentlichen Rechts, und es findet eine 
fortwährende Wechselwirkung zwischen Verwaltung und Rechtsbil-
	        
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