Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 57 
antwortlichkeit des Reichskanzlers für den Inhalt des Reichsgesetz- 
blattes ist eine staatsrechtliche Garantie für die Echtheit und Richtig- 
keit des im Reichsgesetzblatt gelieferten Abdruckes gegeben. Der durch 
die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gesicherte Abdruck des Ge- 
setzes im Reichsgesetzblatt hat die rechtliche Eigenschaft der Au- 
thentizität. Allen Gerichten, Behörden und Angehörigen des 
Reiches wird das Vorhandensein und der Wortlaut der kaiserlichen 
Ausfertigung des Gesetzes vom Reichskanzler dadurch amtlich bekun- 
det und mitgeteilt, daß er das Gesetz in das Reichsgesetzblatt auf- 
nimmt und das Stück des Gesetzblattes herausgibt (d. h. versenden 
läßt‘. Die Prüfung, welche den Behörden und Angehörigen des 
Reiches hinsichtlich der Existenz der Reichsgesetze obliegt, beschränkt 
sich daher darauf, daß sie sich überzeugen, daß das Reichsgesetz in dem 
Reichsgesetzblatt in der dem Art. 17 der Reichsverfassung entsprechen- 
den Art und Weise abgedruckt ist ?). 
Die vorstehenden Sätze werden im Art. 2 der Reichsverfassung in 
einer an die Fassung des Art. 1 des Code civ. anklingenden Weise 
ausgedrückt, indem es daselbst heißt: »Die Reichsgesetze erhalten ihre 
verbindliche Kraft durchihre Verkündigung von Reichswegen, 
welche vermittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht.« In Wahrheit 
beruht die verbindliche Kraft der Reichsgesetze nicht auf ihrem Ab- 
druck im Gesetzblatte, sondern auf der ihnen erteilten Sanktion; 
aber diese Sanktion hat zur Folge die kaiserliche Ausfertigung und 
den Verkündigungsbefehl; und der letztere hat wieder zur Folge die 
vom Reichskanzler bewirkte Publikation durch Abdruck im 
Reichsgesetzblatt. A us dieser, unter der Verantwortlichkeit des Reichs- 
kanzlers erfolgten Verkündigung ergibt sich daher einerseits der Rück- 
schluß auf die verfassungsmäßig geschehene Sanktion, und anderer- 
seits erlangt ohne die Verkündigung im Reichsgesetzblatt kein Reichs- 
1) Ueber den Vertrieb des Reichsgesetzblattes (sowie der amtlichen Ge- 
setz- und Verordnungsblätter der einzelnen Staaten des Reichspostgebietes) durch 
die Reichspostanstalt sind reglementarische Vorschriften gegeben in der 
Allgemeinen Postdienstanweisung. 
2) Tezner in den Wiener jurist. Blättern 1887, S. 51 macht auf die politischen 
Gefahren aufmerksam, welche sich hieraus ergeben können, indem die mit der Ge- 
setzesverkündigung betrauten Personen mittelst dieser Veröffentlichungen in binden- 
der Weise für den Richer die Frage nach der Existenz und Gültigkeit der Gesetze 
entscheiden und dadurch sich an die Stelle des Gesetzgebers selbst setzen können. 
Er beansprucht daher für den Richter das Recht, die Ausfertigung (das Gesetzes- 
original) einzusehen und zu prüfen. Ob die hier geschilderte politische Gefahr von 
großer praktischer Bedeutung ist, lasse ich dahingestellt; staatsrechtlich ist nur der 
Punkt entscheidend, ob das positive Recht dem Abdruck im Gesetzblatt den Cha- 
rakter der Authentizität beilegt oder nicht. Im ersteren Fall spricht für die 
Richtigkeit eine praesumtio legis et de lege, im letztern Falle müßte die Richtigkeit des 
Inhaltes des Gesetzblattes allerdings ebenso geprüft werden, wie die Korrektheit von 
Privatausgaben der Gesetze. Für die Reichsgesetze ist die Frage durch Art. 2 der 
Reichsverfassung entschieden,
	        
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