18 8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze.
Rechtssätze mit den allgemeinen von der Reichsgesetzgebung befolgten
Prinzipien und Tendenzen im Widerspruch stehen, ohne daß sie durch
den Wortlaut der Reichsgesetze als aufgehoben zu erachten sind, steht
es dem Reiche zu, sie durch besondere Gesetze zu beseitigen !).
Der Satz, daß Reichsgesetze auch für Teile des Bundesgebietes er-
lassen werden können, findet folgende spezielle Anwendungsfälle:
1. Ein Landesgesetz kann zum Reichsgesetz erklärt werden ohne
Erweiterung seines Geltungsgebietes ?).. Dadurch wird in den geltenden
Rechtssätzen selbst nichts geändert, sondern nur der landesherrliche
Befehl, diese Sätze als Rechtsregeln zu befolgen, durch den Befehl des
Reiches ersetzt. Dies hat die Wirkung, daß der Einzelstaat dieses Gesetz
weder aufheben noch verändern kann, betrifft also die formelle
Gesetzeskraft.
Hiervon ist aber wohl zu unterscheiden der überaus häufige Fall,
daß in einem Reichsgesetz hinsichtlich gewisser Punkte auf die Landes-
gesetze verwiesen, dieselben für anwendbar erklärt, oder in Kraft er-
halten werden. Eine solche Anordnung eines Reichsgesetzes enthält
keine Sanktion der in den Landesgesetzen enthaltenen Bestim-
mungen und stattet demnach nicht die zur Zeit geltenden Landes-
gesetze mit der Kraft von Reichsgesetzen aus, sondern sie erklärt, daß
die reichsgesetzlichen Vorschriften in den landesgesetzlichen ihre Er-
gänzung finden sollen; sie bestätigt also die Fortdauer der Autono-
mie der Einzelstaaten ®. Demgemäß können solche Landesgesetze
von den einzelnen Staaten abgeändert und aufgehoben werden °).
1) Ein Beispiel liefert das Gesetz vom 4. November 1874 (Reichsgesetzbl. S. 128),
welches Bestimmungen des Lübecker Rechts und Rostocker Stadtrechts aufhob, die
mit den Prinzipien der Gewerbeordnung nicht im Einklang standen. Ebenso ist dem
Reiche wohl nicht die Befugnis zu bestreiten, Landesgesetze aufzuheben oder für
nichtig zu erklären, welche sich mit der gemeinsamen Gesetzgebung des Reichs in
Bezug auf bürgerliches Recht, Strafrecht oder gerichtliches Verfahren in Widerspruch
befinden. Dadurch kann das Reich Ueberschreitungen der den Einzelstaaten zustehen-
den Autonomie beseitigen und unschädlich machen. Ein solches Gesetz wäre nicht.
Normierung des Partikularrechts, sondern Schutz des gemeinsamen Rechts. Abwei-
chender Ansicht ist Heinze S. 143. Gegen denselben erklärt sich auch Binding,
Strafrecht I. S. 277, 285, Note 24.
2) Dies ist z. B. geschehen hinsichtlich des alten Handelsgesetzbuches und der
Wechselordnung.
3) Nicht der augenblickliche Bestand der landesgesetzlichen Vorschriften, son-
dern die Landesgesetzgebung als fortwirkende Rechtsquelle wird in Kraft er-
halten. Vgl. auch Heinze S. 89 ff.
4) Ausdrücklich ausgesprochen ist dies in dem Gesetz über die Bundesflagge
vom 25. Oktober 1867, $ 19 (Bundesgesetzbl. S. 39): „Die landesgesetzlichen Bestim-
mungen ... finden Anwendung, soweit sie mit den Vorschriften des Bundesgesetzes
sich vertragen und unbeschadet ihrer späteren Aenderung äuf landesgesetzlichem
Wege.“ Vgl. ferner das Gesetz über die vertragsmäßigen Zinsen vom 14. Novem-
ber 1867, $ 5, Abs. 2 (Bundegesetzbl. S. 160). Das Einführungsgesetz zum
BGB. Art. 3 bestimmt ebenfalls, daß soweit in dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder in
diesem Gesetz bestimmt ist, daß landesgesetzliche Vorschrifen unberührt bleiben,
neue landesgesetzliche Vorschriften erlassen werden können. Ebenso Art. 128 und.