Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

130 8 74. Das Eisenbahnwesen. 
Die »Einführung« der Verkehrsordnung, d.h. der Befehl an die 
Eisenbahnverwaltungen, dieselbe bei den Transportverträgen zugrunde 
zu legen, war ein Aktder Einzelstaaten und nur hinsichtlich der 
Reichseisenbahnen ein Akt der Reichsregierung; der Beschluß des Bun- 
desrates, durch welchen die Verkehrsordnung für alle Eisenbahnen 
festgestellt wurde, war lediglich die Erfüllung der im Art. 45 der Reichs- 
verfassung dem Reiche gestellten Aufgabe, »s}dahin zu wirken, daß 
auf allen deutschen Eisenbahnen übereinstimmende Betriebsreglements 
eingeführt werden«. Es entspricht dies nicht bloß dem Wortlaut des 
erwähnten Art. 45, sondern auch dem Prinzip, daß die Einzelstaaten 
die Verwaltung ihrer Staatsbahnen und die Hoheitsrechte über die in 
ihren Gebieten befindlichen Privatbahnen behalten haben. Sie haben 
zwar die verfassungsmäßige Pflicht, an der Einführung übereinstim- 
mender Betriebsreglements mitzuwirken, und sie hätten diese Pflicht 
verletzt, wenn sie dem vom Bundesrat beschlossenen Reglement keine 
Geltung verschafft hätten; materiell konnten sie daher ihren Eisen- 
bahnverwaltungen keinen mit der Verkehrsordnung im Widerspruch 
stehenden Dienstbefehl erteilen; formell aber erging dieser Befehl von 
ihnen, nicht vom Bundesrat!). 
Durch das neue Handelsgesetzbuch hat sich die Bedeutung der 
Eisenbahn-Verkehrsordnung vollständig geändert. Sie ist zur Rechts- 
norm erhoben worden; sie soll ein Gesetz im materiellen Sinne des 
Wortes sein, welches teils dem Handelsgesetzbuch vorgeht, soweit das 
Handelsgesetzbuch selbst auf Vorschriften der Verkehrsordnung ver- 
weist, teils das Handelsgesetzbuch ergänzt, und zwar wird den 
Vorschriften der Verkehrsordnung die Kraft des zwingenden Rechts 
beigelegt?). Seit dem neuen Handelsgesetzbuch ist daher die Eisen- 
bahn-Verkehrsordnungetwas wesentlich anderes als die alten 
Betriebsreglements und die frühere Verkehrsordnung; sie ist ein 
Privatrechtsgesetz; sie enthält jetzt nicht mehr Verwaltungs- 
vorschriften, sondern Rechtsvorschriften ; sie ist eine eigentliche Rechts- 
verordnung ’). 
1) Uebereinstimmend G. Meyer-Dochow S. 284; Hänel, Staatsrecht I, 
S. 659; Seydel, Komment. S. 277; Eger .a.a.0O. Note 10 u. a. Wenn Gerstner 
a. a. 0. S. 191 glaubt, die Zuständigkeit des Bundesrats zur Einführung des Betriebs- 
reglements auf das Aufsichtsrecht des Reichs begründen zu können, so ver- 
kennt er vollständig das Wesen dieses Aufsichtsrechts und die Formen seiner Aus- 
übung. Dies hat auch schon SeydelS. 278 gegen ihn bemerkt. 
2) Handelsgesetzb. $ 471, Abs. 2. Auf die Vorschriften der Verkehrsordnung 
als die maßgebende Norm verweisen zahlreiche Artikel des Handelsgesetzbuchs. 
88 453, Ziff. 3; 454, 459, Ziff. 6; 460, Abs. 1; 462, 463, 464, 465, Abs. 2; 466, Abs. 2 u. 
3; 472. 
3) In der Denkschrift des Reichsjustizamts zum Entw. des Handelsge- 
setzb. S. 270 ff. ist dies klar und bestimmt ausgesprochen worden. Es heißt dort: 
„Den Bestimmungen der V. O. sei, wenngleich sie nicht dem Gesetze selbst einver- 
leibt werden könne, die gleiche Bedeutung beizulegen“; „die V. O. soll eine 
revisible Rechtsnorm werden; es sei ihr die Bedeutung einer eigentlichen
	        
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