Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

& 74. Das Eisenbahnwesen. 131 
Die Zuständigkeit des Reichs zum Erlaß dieser Privatrechts- 
Vorschriften ergibt sich aus Art. 4, Ziff. 13 der Reichsverfassung und 
zwar für das ganze Reich mit Einschluß Bayerns, da Ziff. 13 kei- 
nen Vorbehalt zugunsten Bayerns macht. Die Bestimmung im 
Art. 46, Abs. 2 der Reichsverfassung, welche den Art. 45 für Bayern 
für nicht anwendbar erklärt, bezieht sich auf die Betriebsreglements 
in dem Sinne und in der rechtlichen Bedeutung, welche sie zurzeit 
der Abfassung der Reichsverfassung hatten. Nachdem das juristische 
Wesen der Verkehrsordnung ein völlig anderes und die Verkehrsord- 
nung ein Teil der gemeinsamen Gesetzgebung über das bürgerliche 
Recht geworden ist, kann das Sonderrecht Bayerns nicht aus dem 
Grunde fortdauern, weil man der neuen Sache den alten Namen zu 
geben beliebte. 
Es ist nun am 26. Oktober 1899 im Reichsgesetzblatt eine neue 
Eisenbahn-Verkehrsordnung verkündet worden, welche an die Stelle 
der Verkehrsordnung von 1892 getreten ist und inhaltlich von der- 
selben nicht unerheblich abweicht. Sie ist in neuer Fassung vom 
17. Dezember 1908im Reichsgesetzbl. 1909, S. 93 verkündet worden. Sieist, 
wie es im Eingang derselben heißt, vom Bundesrat aufGrund des 
Art. 45 der Reichsverfassung beschlossen worden und sie 
findet Anwendung »auf die Eisenbahnen Deutschlands«. Für die 
bayrischen Eisenbahnen ist jedoch eine besondere, inhaltlich überein- 
stimmende Verkehrsordnung von der bayrischen Regierung am 16. De- 
zember 1899 (Verordnungsbl. Nr. 81) erlassen worden !). 
Dadurch ist die rechtliche Möglichkeit gegeben, daß die Einheit des 
Privatrechts in Deutschland in einer wichtigen Materie einseitig von 
Bayern beseitigt wird. Wenn es auch sehr unwahrscheinlich ist, daß 
dies tatsächlich geschehen wird, so ist doch staatsrechtlich der Umstand, 
daß Bayern dazu in der Lage ist, allein von Bedeutung. 
Abgesehen hiervon erhebt sich die staatsrechtliche Frage, ob der 
Bundesrat die Zuständigkeit zum Erlaß der Verkehrsordnung hat). 
Das Handelsgesetzbuch und das Einführungsgesetz zu demselben ent- 
halten keine Bestimmung darüber, wer die Eisenbahn-Verkehrsord- 
nung zu erlassen hat, insbesondere keine Delegation für den Bundes- 
Rechtsverordnung beizulegen“; es könne nach dem Entwurf „nicht zweifelhaft 
sein, daß ihr künftig diese veränderte Bedeutung zukomme“. Ebenso ist bei den 
Beratungen des Reichstages diese veränderte Bedeutung hervorgehoben und 
anerkannt worden. Stenogr. Berichte 1895/97 Bd. 6, S. 4589 ff. 
1) Die Berufung auf Art. 45 der Reichsverf. erkennt das Sonderrecht Bayerns 
implicite an. Die Verkehrsordnung enthält aber nur im Abschn. Il und teilweise im 
Abschn. III Betriebsvorschriften in geringer Zahl, für welche das Reservatrecht Bayerns 
besteht; die folgenden Abschnitte enthalten durchweg Regeln des bürgerlichen (Han- 
dels-)Rechts, für welche Bayern kein Sonderrecht hat. 
2) Die umfangreiche Literaturüber diese Frage kann hier nicht verzeichnet werden; 
sie ist aufgeführt und kritisch erörtert in der Schrift von Bäseler, Die rechtl. 
Natur der E.V.O. Tüb. 1912.
	        
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