8 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
dumpfen Schlummer der Keiserzeit seine geistige Arbeit wieder auf. Das
Buch der Frau von Staöl über Deutschland, das die napoleonischen
Zensoren als eine Beleidigung des nationalen Stolzes zurückgewiesen
hatten, kam jetzt in jedermanns Hände, warb überall Anhänger für die
deutschen Ideen, die man hier in Bausch und Bogen als Romantik be-
zeichnete. Die Herrschaft der sensualistischen Philosophie brach zusammen
vor der Kritik der Doktrinäre; ein dichter Kreis bedeutender Talente,
Mignet, Guizot, die Thierrys eröffneten den Franzosen das Verständ-
nis der historischen Welt. Das Zeitalter Ludwigs XIV., das selbst
den radikalen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts noch als die Epoche
klassischer Formenschönheit gegolten hatte, begann sein Ansehen zu ver-
lieren, und bald erhob sich eine neue Dichterschule, welche Frankreich
von dem Banne der akademischen Regeln befreite, also daß Victor Hugo
von seinem Volke mit einiger Wahrheit sagen konnte: die Romantik ist
in der Literatur, was der Liberalismus in der Politik. Noch stärker und
unmittelbarer war der Gedankenaustausch zwischen Deutschland und Eng-
land; die Deutschen zahlten jetzt den Briten heim, was sie einst von
Shakespeare und Sterne empfangen. Walter Scott, der fruchtbarste und
beliebteste Dichter des Zeitalters, ging bei Bürger und Goethe in die
Schule und schöpfte aus dem tiefen Borne der Sagen und Volkslieder,
welchen die Deutschen der Welt erschlossen hatten; durch seine historischen
Romane wurden die breiten Massen der europäischen Lesewelt erst für
die romantischen Ideale gewonnen. Auch einige Italiener, Manzoni vor
allen, lenkten in die Bahn der neuen Dichtung ein; zur unbestrittenen
Herrschaft freilich konnte die romantische Poesie in diesem halbantiken
Volke ebensowenig gelangen, wie einst die nordische Kunstform der Gotik.
Uberall erwachten die Geister. In Deutschland selbst erschien der
Reichtum dieser fruchtbaren Epoche minder auffällig, als in den Nachbar-
landen; denn die klassische Zeit unserer Dichtung war kaum erst vorüber,
die große Mehrzahl der jungen Poeten nahm sich neben den Herven jener
großen Tage wie ein Geschlecht von Epigonen aus. Um so mächtiger und
fruchtbarer entfaltete sich die schöpferische Kraft des deutschen Genius auf
dem Gebiete der Wissenschaft. Fast gleichzeitig ließen Savigny, die Grimms,
Boeckh, Lachmann, Bopp, Diez, Ritter ihre grundlegenden Schriften er-
scheinen, während Niebuhr, die Humboldts, Eichhorn, Creuzer, Gottfried
Hermann auf ihren eingeschlagenen Wegen rüstig weiterschritten. Unauf-
haltsam flutete der Strom neuer Gedanken dahin. Es war ein Gedränge
von reichen Talenten wie einst, da Klopstock den jungen Tag der deutschen
Dichtung heraufführte. Und wie vormals die Bahnbrecher unserer Poesie,
so erschien auch dies neue Gelehrtengeschlecht ganz durchglüht von un-
schuldiger, jugendlicher Begeisterung, von einem lauteren Ehrgeiz, der auf
der Welt nichts suchte als die Seligkeit der Erkenntnis und die Mehrung
deutschen Ruhmes durch die Taten der freien Forschung.