fullscreen: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

346 Aebersicht der pelitischen Entwickelung des Jahres 1892. 
5) Jeder Parteigenosse, der als Vertreter der Sozialdemokratie 
in ein Parlament gewählt werden soll, hat vorher nachzuweisen, 
daß er aus der Kirche ausgeschieden ist. 
Diese fünf Anträge find aus den allerverschiedensten Stand- 
punkten heraus gestellt. Aber die zwei ersten von ihnen zeigen, 
daß dieser Standpunkt nicht stets durchaus religionsfeindlich ist. 
Schärfer schon ist der dritte, während der Inhalt des vierten auch 
von einem Christen vertreten werden kann und von manchem ja 
auch vertreten wird. Am schroffsten und radikalsten ist der fünfte 
Antrag. Er wurde aber auch in der allerbezeichnendsten Weise auf- 
genommen. Die drei ersten ließ man überhaupt fallen, auf Antrag 
Vollmars, mit der Motivierung, nicht schon wieder eine Programm- 
revision vornehmen zu wollen; der vierte wurde mit vielen anderen 
einfach der Reichstagsfraktion zur Kenntnisnahme überwiesen, wäh- 
rend der fünfte mit hellem Gelächter begrüßt wurde. Mit großer 
Majorität ging man sofort über denselben zur Tagesordnung über. 
Das Ganze war ein überaus charakteristischer Vorgang. Und so 
verschieden man ihn an sich auch deuten kann, für den, der ihm 
beiwohnte, ging daraus hervor, daß man an dem einmal im Pro- 
gramme formulierten Satze der unbeschränkten religiösen Freiheit 
des einzelnen Parteigenossen nicht gerüttelt wissen wollte. 
Die Einnahmen der Partei betrugen vom 1. Oktober 1891 
bis 30. September 1892 die ungeheure Summe von 231,895 Mk. 
Davon waren 160,887 Mk. freiwillige Beiträge von Parteigenossen 
im Reiche! 
Der gedruckte Bericht enthält folgenden Passus über die 
Stellung der Partei zum Meineid: 
„Die Sozialdemokratie hat niemals einen Hehl daraus ge- 
macht, daß sie Gegnerin der religiösen Form des Eides ist; für sie 
ist die religiöse Bedeutung und religiöse Verantwortung des Eides 
belanglos; sie erkennt den Wahrheitszwang vor Gericht einfach als 
bürgerliche, als menschliche Verpflichtung an, der gegenüber für den 
Zeugen nur das Recht der Eidesverweigerung, nicht das der Lüge 
anerkannt werden kann. In der gegenwärtigen Gesellschaft ist der 
Eid eine der Grundlagen des Rechtsverfahrens; wird nun eine ganze 
politische Partei von vornherein grund= und beweislos der Mein-
	        
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