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Das deutsche Reich und seine einzelnen Slieder.
Ministerverantwortlichkeit ganz in dem Sinne französischer Theorien behandelt“
und endlich im Widerspruch mit der preußischen Verfassung eine Solidarität
der Verantwortlichkeit der Minister und eine amtliche Autoritätsstellung des
Ministerpräsidenten beansprucht habe. An zweiter Stelle handelt es sich für
die Kreuzzeitung dem Fürsten Bismarck gegenüber um „Vertheidigung des
christlichen Charakters unseres Staates“, da jener im Gegensatze zur Verfassung,
welche das Christenthnm als Staatsreligion erkläre, ausdrücklich betont habe:
Preußen besitze keine Staatsreligion, und es könne „die staatliche Geltung und
Berechtigung, welche für die katholische Kirche gefordert werde, gerechterweise
auch für alle Übrigen christlichen und nicht christlichen Confessionen gefordert“
werden. In diesen beiden „Fundamentalfragen für preußische Conservative"“ —
sagt die N. Pr. Ztg. — gebe es keine Compromisse; „das Bekenntniß zu ihnen,
ohne jede anderweitige Rücksicht zur Zeit oder zur Unzeit“, sei „unbedingte
Pflicht“. Die „Nordd. Allg. Ztg.“ das Organ Bismarcks antwortet darauf
in einer Weise, die an Deutlichkeit nichts vermissen läßt, u. A. folgendes:
„Die unwiderlegbare Wahrheit, daß in einem constitutionellen Staate, dessen
Gesetzgebung der Zustimmung der Mehrheit in beiden Häusern bedarf, das
Ministerium zur regelmäßigen Entwicklung des Staatsrechtes die Unterstützung
einer Majorität in der Landesvertretung nöthig hat, wird von der „Kreuzztg.“
zu einer Anerkennung absoluter Majoritätsherrschaft entstellt. Das für
die Einheit der Verwaltung und der gesetzlichen Entwicklung unumgängliche
Erforderniß der Solidarität im Rathe der Krone wird von der „Kreuzztg.“
mit einer bedauerlichen Unwissenheit über unser Staatsrecht und über die seit
zwanzig Jahren ununterbrochene Praxis desselben verkannt und bestritten.
Die „Kreuzztg.“ bekundet durch. ihre Deduktion so naive Unwissenbeit im
preußischen Staatsrechte, daß man kaum begreift, wie Jemand mit so schüler-
haften Vorstudien die Anmaßung haben kann, ein so dreistes Urtheil abzu-
geben. Mann kann sich darüber nicht wundern, wenn man sieht, wie sie nicht
einmal die Begriffe „confessionell“ und „christlich“ zu unterscheiden weiß. Sie
schiebt dem Ministerpräsidenten wider besseres Wissen die Insinuation unter,
daß er das „christliche Bekenntniß“" anfeinde, wenn er die einfache Wahrheit
ausspricht, daß ein Staat nicht „confessionell“ sein könne, in welchem neben
fast 16 Millionen Evangelischen etwa 8 Millionen Katholiken und noch einige
andere Confessionen die Beachtung durch die Staatsgewalt beanspruchen. Es
ist eine dreiste Fälschung, wenn man der königl. Regierung weil sie den
gleichberechtigen Ansprüchen verschiedener Confessionen gegenüber die unmögliche
Aufgabe, allen consessionellen Anforderungen gerecht zu werden, nicht erfüllt,
den christlichen Charakter bestreiten will. Diese Fälschung, da sie bei urtheils-
fähigen Menschen keinen Anklang finden kann, hat nur die Adresse an die
weniger unterrichteten und deßhalb weniger urtheilsfähigen Massen, und in
so fern eine unleugbar revolutionäre Tendenz, vertreten durch die „Kreuzztg.“
Die in Gemeinschaft mit Hrn. Windhorst übernommene „Vindikation des
monarchischen Princips gegen parlamentarische Majoritäts-Wirtschaft“ gegen-
über einem Staatsmanne, der im Dienste des Königs mehr vollbracht hat,
als die „Kreuzztg.“ je versucht hat, ist eine Folge davon, daß diese Zeitung.
unter unfähiger Leitung, der ultramontanen und polnischen Strömung sich
kritiklos hingegeben hat und aus ihrer alten Bahn gewichen ist. Die klare
und kühne Leitung, welche ihr ihre Redaction bei ihrer Entstehung vorgezeich-
net hatte, auf der sie der damaligen Regierung und dem Vaterlande in preu-
ßischer Treue namhafte Dienste leistete, hat heutzutage einer impotenten Ver-
kommenheit Platz gemacht, in welcher dieses Blatt, in Ausbeutung des unter
seinen ersten Leitern erworbenen Ansehens, sich dazu hergibt, den persönlichen
Einflüssen verkannter Staatsmänner zu dienen, welche die Monarchie im Stiche
ließen, als dieselbe ihrer Dienste am dringendsten bedurfte. Es ist eine lehr-
reiche Erscheinung, dieses mit erheblichen Opfern der persönlichen Anhänger
des preußischen Königthums begründete und verbreitete Blatt heutzutage im