Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
ist nothwendig. 2) Die Initiative dazu wird der Staatsregierung anver- 
traut, aber die Ansicht und der Wunsch der Kammer ausgesprochen, daß 
von Anfang an zur Vorberathung durch eine Verfassungsrevisions-Commission 
auch Vertrauensmänner der beiden Kammern beigezogen werden. 3) Die 
großherzogliche Regierung wird ersucht, die Einleitung zu der allgemeinen 
Verfassungsrevision in obigem Sinne zu treffen." 
In der Debatte über den Antrag legt Minister Jolly in längerer 
Rede die Gründe dar, warum man nur mit größter Vorsicht und Pietät 
an eine Aenderung der Verfassung gehen solle. Wenn eine solche auch in 
einzelnen Punkten nahe gelegt sei, so doch nicht im Ganzen, so lange noch 
im Reiche Manches im Flusse und in der Entwicklung sei; wie weit, wie 
rasch diese Entwicklung gehe, sei heute nicht zu sagen, wenn auch im Großen 
die Competenz zwischen dem Reich und dem badischen Staate bereits fest- 
stehe. Der Redner weist dabei u. A. auf die Annahme des Gesetzes, be- 
treffend die Ausdehnung der Reichscompetenz auf das gesammte Civilrecht, 
hin, indem er bemerkt: „Damit scheint auf den ersten Blick ein zwar sehr 
weites und wichtiges, aber doch nicht specifisch politisches Gebiet den einzelnen 
Staaten entzogen. Es ist aber gewiß, daß, wenn das deutsche Reich nach 
Annahme und Durchführung des sogenannten Lasker'schen Antrages das 
Civilrecht und die gesammte Justiz-Gesetzgebung zur Reichssache macht, damit 
und in Folge davon auch auf das politische Leben aller einzelnen Staaten 
in sehr erheblicher Weise wird eingewirkt werden. Wie die Dinge heute 
liegen, unterliegt es kaum einem Zweifel, daß sehr bald die Folge der An- 
nahme jenes Antrags die Einführung der Civilehe im ganzen deutschen Reiche 
sein wird. Das berührt, wenn es auch formell als ein Bestandtheil der 
bürgerlichen Gesetzgebung erscheint, doch sehr wesentliche Beziehungen zwischen 
Staat und Kirche. Speciell in unserm Lande würde materiell damit nichts 
geändert; aber auch für uns tritt doch gerade in politischer Beziehung eine 
sehr erhebliche Aenderung ein, wenn eine zwar civilrechtliche, aber das Ver- 
hältniß zwischen Staat und Kirche so nahe berührende Institution aus einer 
particularrechtlichen eine reichsgesetzliche wird. Das Verhältniß zwischen 
Staat und Kirche zu ordnen, wird die Reichsgewalt, glaube ich, nicht unter- 
nehmen; das direct zu thun, würde sogar im Augenblick außerhalb der Com- 
petenz des Reiches liegen, und ich glaube, daß die Reichsverwaltung nicht 
dahin streben wird, ihre Competenz zu erweitern. Aber Sie alle wissen, das 
Reich war bereits durch die unerhörten Angriffe gegen dasselbe genöthigt, 
zur Abwehr gegen gewisse Mißbräuche, die eine bestimmte Partei innerhalb 
der Kirche sich erlaubte, prohibitive Strafgesetze zu erlassen. Niemand kann 
wissen, ob auf diesem Weg weiter gegangen werden muß, und wie weit, 
welche weitere Consequenzen sich ergeben werden, wie viel von dem politischen 
Leben der Particular-Staaten in Folge davon, sei es der rechtlichen Form 
nach, sei es auch nur thatsächlich, auf das Reich übergeht.“ Im weiteren 
Verlaufe seiner Rede bemerkt der Minister: Manche der von den Antrag- 
stellern gewünschten Abänderungen seien mehr theoretischer als practischer 
Natur, und hierin könne das Beispiel der Franzosen abschrecken, während 
die practischen Engländer, wie die alten Römer, an ihrer alten Verfassung 
festhielten. Was den Wunsch nach Vereinigung beider Kammern betreffe, 
so habe in Baden die erste Kammer dem politischen Leben nie geschadet, öfter 
genützt. Das Wahlsystem sei erst vor einigen Jahren geändert worden und 
das Bedürfniß, noch einmal zu ändern, nicht so dringend; die bisheri- 
gen Wahlen seien im Ganzen gut. Die bisherigen directen Reichstags- 
wahlen hätten unter ganz besonderen Umständen, nach großen äußeren Er- 
folgen der Reichsmacht stattgefunden und bewiesen nichts für die Wünsch- 
barkeit directer Wahlen, die namentlich in großen Städten bedenklich werden 
könnten. Der Antrag auf einjährige Budget= und Landtagsperioden sei unter 
der Voraussetzung wesentlicher Abkürzung der Geschäfte annehmbar. 

	        
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