Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 45
gefährden, das durch die heftigsten Kämpfe und allerschwersten
Opfer begründet wurde. Jeder deutsche Staat hat die Interessen des
deutschen Reiches wahrzunehmen, namentlich Preußen, das an der Spitze des
Reiches steht. Diese Auffassung bitte ich in den Gesetzentwürfen zu sehen.
Dabei sei auch konstatirt, daß die preußische Regierung in ihrer höch-
sten Spitze nicht gespalten ist; in freier, voller und ganzer Ueber-
einstimmung sind diese Gesetzentwürfe der allerhöchsten Sanction
unterbreitet worden. Der Weg, der zu beschreiten ist, ward zuerst be-
treten durch die Vorlegung jenes Gesetzentwurfs über die Grenzen der Straf-
und Zuchtmittel in der Kirche. Man hat vielfach die Bedeutung dieses
Entwurfs übertrieben; von praktischem Werthe ist er für sich allein nur in
geringem Maße. Aber seine Bedeutung steigt im Zusammenhange mit den
heutigen Vorlagen. Das zu regelnde Gebiet ist außerordentlich groß und
weit, und bis zu seiner endlichen Regelung wird noch mehr als eine Land-
tagssession verlaufen. Die Staatsregierung mußte sich fragen, welcher Theil
jenes Gebiets zuerst zur Beschlußfassung des Landtages zu stellen sei. Da
erschien vor Allem dringend: die Regelung der Verhältnisse des Klerus,
zunächst des katholischen Klerus. Der Klerus ist abhängig ge-
worden innerlich und äußerlich von Mächten, die außerhalb
unserer Nation stehen und denen das nationale Bewußtsein
nicht eigen sein kann. Innerlich: durch seine Bildung, äußerlich: durch
die Art seiner Stellung. Solcher Klerus wird an Stellen gesetzt, in denen
er den Staat aufs Empfindlichste schädigen kann. Hier muß Wandlung
geschafft werden durch die Aenderung, durch den Bruch der bestehenden
Verhältnisse. Dasselbe kann ich nicht sagen von der evangelischen Geist-
lichkeit; wenn die Staatsregierung sich dennoch nicht auf die katholische be-
schränkt, so geschieht es, weil es sich hier um eine grundsätzliche Regelung
der Dinge, nicht um eine Aenderung von heute auf morgen handelt, und
deßhalb auch die weitere Gestaltung der evangelischen Kirche ins Auge gefaßt
werden muß. Die Regierung will ganze Maßregeln; sie hat die
Erfahrungen anderer Länder zu Rathe gezogen und sich gefragt, woher es
kommt, daß ab und zu diese Gesetzgebungen unwirksam gewesen sind in einer
oder der andern Beziehung, und deßhalb dagegen überall Vorsorge zu treffen
gesucht. Bei diesen Bemühungen konnte sie sich der Frage nicht entziehen:
Wie verhalten sich diese Entwürfe zur Verfassungsurkunde? Der Zweifel ist
nicht unberechtigt, ob einzelne Bestimmungen der Vorlagen die Ver-
fassung lediglich ausführen oder modificiren. Die Regierung möchte
nicht, daß Mitglieder des Hauses bei sonstiger sachlicher Uebereinstimmung
aus verfassungsmäßigen Bedenken ablehnend votirten, und empfiehlt Ihnen
deßhalb, diese Entwürfe zu behandeln, als ob es sich um eine Modification
der Verfassung handle. (Aha ! im Centrum.) Es liegt Ihnen kein Gesetz
vor, wonach die Verfassungsurkunde, speziell Art. 15, geändert werden soll;
wir stellen uns einfach auf den praktischen Standpunkt. Der Kampf um
derartige allgemeine Sätze könnte immer wieder nur zu allgemeinen Sätzen
führen. Wenn die Regierung ihren Weg weiter geht, muß sie dann noch
andere Materien in dieses Gebiet hineinziehen, wobei es fraglich bleibt, ob
es gelingen möchte, für alle Beziehungen, zumal dieselben noch in der Vor-
bereitung stehen, eine Formel zu finden, die auch später ausreicht. Darum
empfiehlt Ihnen die Regierung, den Weg zu gehen, den Sie gegangen sind
unter außerordentlichen Verhältnissen bei dem Beschluß über die Reichsver-
fassung, nämlich diese Gesetze zu unterwerfen der Form der Abstimmung nach
Art. 107, der zweimaligen Abstimmung innerhalb 21 Tagen.
Der wenigstens von einem Theil des Ministeriums, namentlich den
Ministern der Justiz, des Innern und des Cultus lebhaft vertheidigte
Entwurf eines Gesetzes über Einführung der obligatorischen Civilehe