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Nebersicht der Ereignisse des Jahres 1873.
ganz wesentlich gemindert. Der Legitimismus ist in Frankreich nur
mehr eine Mumie, in der alles Leben abgestorben ist, wenn sie auch
noch so sorgfältig conservirt wird. Eine Art gespensterhaftes Leben
hat sie nur noch in einer Anzahl altadeliger Familien, die sich vom
Volke sorgfältig abschließen, um den Formen und Ideen der guten
alten Zeit eine Art religiösen Cultus zu widmen. In den Massen
ist der Legitimismus todt und abgestorben und über denselben längst
das Gras gewachsen. Was ihm allein noch eine Folie gibt, ist die
Kirche, sind ihre Interessen. Die Ideale der römisch-katholischen Kirche
liegen weit zurück im Mittelalter und die Organe ihrer glühenden
Anhänger selbst aus der allerjüngsten Zeit lassen darüber keinen Zwei-
fel, daß sie auch nicht auf eine ihrer damaligen Anschauungen oder
Bestrebungen verzichtet hat, wenn auch die Klügeren ihrer Anhänger
wohl einsehen, daß das, was sie wünschen und für allein richtig halten,
vorerst geradezu ein Ding der Unmöglichkeit ist, daher z. Z. darüber
hinweggehen und lieber ganz schweigen, und nur die Heißsporne der
Partei unumwunden aussprechen, was im Grunde alle wollen und
wollen müssen. Eben dort liegen auch die Ideale der reinen Legiti-
misten, liegt Alles, was ihnen ehrwürdig, theuer, heilig ist. Die
ganze moderne Entwickelung widerspricht den Interessen beider im
innersten Kerne, ist beiden gleichmäßig ein Gräuel, den sie beide am
liebsten mit Stumpf und Stiel ausrotten würden. An Consequenz
fehlt es beiden nicht, an Kühnheit, Thätigkeit, Zähigkeit der römischen
Kirche, an der letzteren wenigstens auch den Legitimisten nicht. Der
innerste Zug ihres Wesens führt beide naturgemäß zusammen. Die
Legitimisten sind sich ihrer politischen Schwäche wohl bewußt, sie wissen
wohl, daß sie in Wahrheit nur ein kleines Häufchen sind, das von
allen Seiten zurückgedrängt, verlacht, verhöhnt wird: durch ihren unbe-
dingten Anschluß an die römische Kirche gewinnen sie allein einen festen
Halt, mit dessen Hülfe einzig sie vielleicht am Ende doch wieder oben
auf zu kommen hoffen dürfen. Die römische Kirche ist in ganz an-
derer Lage. Oft angegriffen, bedrängt, fast zu Boden geworfen, hat
sie sich immer wieder aufgerafft und steht in ihrer wundervollen Or-
ganisation, an der ein Jahrtausend unablässig gearbeitet hat, noch
immer mächtig da, zumal in Frankreich, wo sie fast das ganze Unter-
richtswesen in ihrer Hand hat und dadurch über die Massen und selbst
über einen sehr ansehnlichen Theil der gebildeten Classen gebietet.