Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Nebersicht der Ereignisse des Jahres 1873. 
ganz wesentlich gemindert. Der Legitimismus ist in Frankreich nur 
mehr eine Mumie, in der alles Leben abgestorben ist, wenn sie auch 
noch so sorgfältig conservirt wird. Eine Art gespensterhaftes Leben 
hat sie nur noch in einer Anzahl altadeliger Familien, die sich vom 
Volke sorgfältig abschließen, um den Formen und Ideen der guten 
alten Zeit eine Art religiösen Cultus zu widmen. In den Massen 
ist der Legitimismus todt und abgestorben und über denselben längst 
das Gras gewachsen. Was ihm allein noch eine Folie gibt, ist die 
Kirche, sind ihre Interessen. Die Ideale der römisch-katholischen Kirche 
liegen weit zurück im Mittelalter und die Organe ihrer glühenden 
Anhänger selbst aus der allerjüngsten Zeit lassen darüber keinen Zwei- 
fel, daß sie auch nicht auf eine ihrer damaligen Anschauungen oder 
Bestrebungen verzichtet hat, wenn auch die Klügeren ihrer Anhänger 
wohl einsehen, daß das, was sie wünschen und für allein richtig halten, 
vorerst geradezu ein Ding der Unmöglichkeit ist, daher z. Z. darüber 
hinweggehen und lieber ganz schweigen, und nur die Heißsporne der 
Partei unumwunden aussprechen, was im Grunde alle wollen und 
wollen müssen. Eben dort liegen auch die Ideale der reinen Legiti- 
misten, liegt Alles, was ihnen ehrwürdig, theuer, heilig ist. Die 
ganze moderne Entwickelung widerspricht den Interessen beider im 
innersten Kerne, ist beiden gleichmäßig ein Gräuel, den sie beide am 
liebsten mit Stumpf und Stiel ausrotten würden. An Consequenz 
fehlt es beiden nicht, an Kühnheit, Thätigkeit, Zähigkeit der römischen 
Kirche, an der letzteren wenigstens auch den Legitimisten nicht. Der 
innerste Zug ihres Wesens führt beide naturgemäß zusammen. Die 
Legitimisten sind sich ihrer politischen Schwäche wohl bewußt, sie wissen 
wohl, daß sie in Wahrheit nur ein kleines Häufchen sind, das von 
allen Seiten zurückgedrängt, verlacht, verhöhnt wird: durch ihren unbe- 
dingten Anschluß an die römische Kirche gewinnen sie allein einen festen 
Halt, mit dessen Hülfe einzig sie vielleicht am Ende doch wieder oben 
auf zu kommen hoffen dürfen. Die römische Kirche ist in ganz an- 
derer Lage. Oft angegriffen, bedrängt, fast zu Boden geworfen, hat 
sie sich immer wieder aufgerafft und steht in ihrer wundervollen Or- 
ganisation, an der ein Jahrtausend unablässig gearbeitet hat, noch 
immer mächtig da, zumal in Frankreich, wo sie fast das ganze Unter- 
richtswesen in ihrer Hand hat und dadurch über die Massen und selbst 
über einen sehr ansehnlichen Theil der gebildeten Classen gebietet.