Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
gegen den von Bayern vorgeschlagenen Reichsrechtshofes ausspricht, da die 
bisherige Entwickelung fast unausweichlich dahin führen werde. „Für die 
Erhaltung der bisherigen obersten Landesgerichte, die der Interpellant zu 
wünschen scheint, kann ich mich schon darum nicht verpflichten, weil es bereits 
ein Reichsgericht, das Reichsoberhandelsgericht, gibt. Seit auf Antrag der 
k. sächsischen Regierung das Bundesoberhandelsgericht als oberstes Instanz- 
gericht für Handels= und Wechselsachen errichtet ward, ist nicht mehr res 
integra. Seither wurden dem Bundesoberhandelsgericht durch die Gesetze 
über das Urheberrecht und über die Haftpflicht weitere Competenzen, durch 
das erste Gesetz auch in Strafsachen, übertragen, auch ist das Reichsober= 
handelsgericht oberster Gerichtshof für Consulargerichtsbarkeitssachen und für 
Elsaß und Lothringen. Ein Reichs-Strafgericht für Hochverrath und Landes- 
verrath gegen das Reich sieht Art. 75 der Reichsverfassung vor. Selbst der 
Herr Interpellant wird es nicht für möglich halten, diese Reichsgerichte 
wieder zu beseitigen. Sodann waren sämmtliche Mitglieder der Dezember- 
conferenz der Ansicht, daß eine Institution zur Erhaltung der Rechtseinheit, 
soweit sie vorhanden, zur Sicherung der gleichmäßigen Anwendung des 
Reichsrechts, unmöglich vorenthalten werden könne. Man hat allerdings 
neben dem Reichsoberhandelsgericht als oberstem Instanzgericht einen Reichs- 
rechtshof vorgeschlagen, der im Falle vorgekommener verschiedener Auslegung 
des Reichsrechts Sprüche über die Rechtsfrage zu fällen hätte, welche für 
die Zukunft sämmtliche Gerichte im Reiche binden würden. Der Vorschlag, 
welcher Einer Function eines obersten Gerichts jedenfalls entspricht, hat, 
insbesondere bei dem dermaligen Rechtszustande in Deutschland, manches 
Ansprechende und ich habe für seine Inbetrachtnahme mich ausgesprochen, 
konnte aber keinen Augenblick mir verbergen, daß Reichsoberhandelsgericht 
und Reichsrechtshof, weil auf verschiedenen Prinzipien beruhend, nur in 
anomaler Weise nebeneinander bestehen können, und daß die Wahrscheinlich- 
keit dafür weit größer ist, daß das Reichsoberhandelsgericht den Reichsrechts- 
hof in der Geburt ersticken, als daß dieser jenes verdrängen wird.“ Die 
Kammer beschließt, die Rede des Ministers vorerst in Druck legen zu lassen 
und in einer der nächsten Sitzungen daran eine Debatte zu knüpfen. 
 
 
25. Jan. (Preußen.) Abg.-Haus: Fürst Bismarck gibt gelegentlich der 
Berathung des Etats für 1873, auswärtige Angelegenheiten, Auf- 
schluß über den Sinn und die Bedeutung der letzten Modification 
des Ministeriums: 
„Der Hr. Vorredner (Lasker) hat meiner Ueberzeugung nach vollkommen 
Recht, wenn er annimmt, daß jedes Mitglied des Staatsministeriums nach 
zwei Seiten hin aufzufassen ist, einmal nach der Verwaltung seines Ressorts, 
das zweite Mal nach seiner politischen Anschauung als Mitglied des Staats- 
ministeriums, nach seiner Mitverantwortlichkeit für die Gesammthandlungen 
des Staatsministeriums. Der Präsident des Staatsministeriums aber, obschon 
ihm ein größeres Gewicht der moralischen Verantwortlichkeit wie jedem 
anderen Mitgliede ohne Zweifel zufällt, hat doch keinen größeren Einfluß 
als irgend einer seiner Collegen auf die Gesammtleitung der Geschäfte, wenn 
er ihn nicht persönlich sich erkämpft und gewinnt; unser Staatsrecht verleiht 
ihm keinen. Will er diesen Einfluß gewinnen, muß er ihn durch Bitten, 
Ueberredung, Correspondenzen, Beschwerden beim Gesammt-Collegium, kurz 
durch Kämpfe gewinnen, die die Leistungsfähigkeit des Einzelnen in hohem 
Maße beanspruchen. Die Last, die zu bewegen ist, wenn es gilt, einen 
anders denkenden Collegen zu überzeugen, ist oft mit Bitte und Ueberredung 
allein nicht zu bewegen. Dieser Umstand erhöht die Wichtigkeit des Mo- 
ments, daß im Staatsministerium jedes Mitglied gleiche politische Bedeutung 
in Anspruch nimmt und für die Gesammtleistung der Politik verantwortlich 
ist. Nun ist es dem einem bestimmten Ressort nicht Angehörigen nicht mög-