50 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 29.)
die zur Arbeit berufen sind, allmählich dahin gelangen, dann könnte ich
schließlich auch noch zu denselben gehören und zwar sofort in die Invaliden=
klasse treten. (Heiterkeit.) Nein, meine Herren, was da ausgesprochen ist,
das geht mir zu weit, und beweist mir, wie weit wir schon auf dem sozia-
listischen Gebiete vorgeschritten sind. (Sehr wahr! im Zentrum.) Wenn
die Allgemeinheit in solcher Weise für die einzelnen Gruppen der mensch-
lichen Gesellschaft eintreten soll, so frage ich schließlich: wer tritt denn für.
die Allgemeinheit ein? und woraus besteht sie denn? Ich bekenne, daß auf
diese Fragen die Herren, die bisher gesprochen haben sowohl, als der Be-
richt mir jede Auskunft versagt haben.
Meine Herren, wenn man nun selbst den Umfang des § 1 zugeben
wollte, dann kommt doch — denn es hängt das eine mit dem anderen un-
mittelbar zusammen, wie das die Diskussion bereits auch bewiesen hat —
die Frage des Reichszuschusses; und nach meinem Dafürhalten dreht sich das
Ganze im wesentlichen um diese Frage, und der Reichszuschuß, der hier vor-
geschlagen worden ist, wird notwendig den Umfang derer, die in das Gese
hinein wollen, immer mehr und mehr vergrößern. Ist einmal Reichszuschuß
gesichert, dann wird es immer neue Kategorien von Staatsbürgern geben,
die meinen, sie könnten auch an diesen Staatszuschüssen teilnehmen. Das
ist der Anfang des Gedankens, daß alle Staatsbürger aus einer Krippe essen
können, wobei man aber vergißt, wer die Krippe dann zu füllen hat.
Meine Herren, ich habe mich umgesehen und habe andere Leute, die
mit dieser Angelegenheit sich noch mehr beschäftigt haben als ich, befragt,
ob in irgend einem Lande ein analoges Verhältnis existiere wie das, welches
durch dieses Gesetz und durch diesen Reichszuschuß geschaffen werden soll.
Ich habe nichts gefunden; und die, welche ich gefragt habe, haben mir ge-
sagt: nein, ein Analogon gibt es nicht, das ist ein rein neuer Gedanke, der
hier in Deutschland aufgetaucht ist und, wie wir jetzt wissen, vom Fürsten
Bismarck stammt. Er ist ja ohne Zweifel genial und spricht auch zum
Herzen, und wer möchte nicht allen seinen Mitbürgern das Beste wünschen
und das Gute, welches hier beabsichtigt wird? Aber ich frage: ist er denn
ausführbar in diesem Umfange und in dieser Weise? — und das glaube
ich meines Teils nicht Von der Handhabung des Gesetzes will ich einmal
gar nicht sprechen; auch da habe ich meine Bedenken, ob es ausführbar ist.
Aber nicht ausführbar bleibt es für mich, weil wir zur Ausführung die
Mittel nicht haben. Denn das werden wir uns doch nicht einbilden, daß,
wenn dieses Gesetz einmal votiert ist, es bei dem Drittel bleibt, welches der
Staat übernehmen soll.
Es haben uns in dankenswerter Offenheit die Herren Sozialdemo-
kraten bereits gezeigt, wohin die Konsequenzen auf dieser Vorlage, auf diesem
Gesetze führen würden. So viel ich weiß, — ich muß um Entschuldigung
bitten, wenn ich mich in dieser oder jener Ziffer irre, denn ich muß mir
alles vorlesen lassen, — hat der Herr Abgeordnete Bebel bereits verlangt,
es solle der Staat 90 Prozent geben. Er hat ferner verlangt, daß für die-
jenigen, welche 600 M. nur verdienen, der Staat den ganzen Beitrag bezah-
len soll. Ich weiß gar nicht, wozu der Umweg? (Heiterkeit.) „L'appétit
vient en mangeant“", und ich habe die Ueberzeugung: wenn das, was un-
sere Vorlage enthält, gewährt wird, und das Gesetz zu stande kommt, so
wird schon bei den nächsten Wahlen die ganze Arbeiterbevölkerung dem
Kandidaten sagen: „Willst du dafür stimmen, daß statt der 50 M. nächstens
100 genommen werden“", und wer das verneint, dem wird sie sagen: „dann
danken wir für deine Teilnahme“.
Meine Herren, sehen Sie nicht, was für eine große soziale Gefahr
das ist? Glauben Sie, daß Sie es in den Händen hätten, nun „stop“ zu