Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

286 Rußland. (Juni Anf.—12.) 
vor weiteren Rüstungen zu bewahren und dem fortgesetzten Wachsen der 
Ausgaben für kriegerische Zwecke Einhalt zu gebieten. Mit Recht habe man 
der Keede des österreichischen Diplomaten, eSchon als dieselbe nur in tele- 
graphischen Auszügen bekannt gewesen sei, die größte Bedeutung beigemessen. 
Sie gewann noch mehr dadurch, daß sie am Vorabende der Wahlen in 
Deutschland gehalten worden sei. Bemerkenswert an ihr sei nicht der Russo- 
philismus, sondern vielmehr — wenn man so sagen dürfe — der „Anti- 
caprivismus“ des autorisierten Verfassers der Thronrede des Kaisers Franz 
Joseph. Oesterreich-Ungarn teile augenscheinlich nicht die Stimmung, welche 
zur Zeit die deutsche Regierung zwinge, auf der Militärvorlage zu bestehen. 
In Wien oder doch am Kaiserhofe wünsche man ein möglichst schnelles Ende 
der „gespannten Militärvorbereitungen", und man erblicke dort in der Freund- 
schaft Oesterreich-Ungarns mit Rußland ietz, das wirksamste Mittel, das zu 
erreichen. So denke man auch in allen übrigen Staaten Europas. 
Vor einem Monat wäre es wahrscheinlich niemandem eingefallen, daß 
Graf Kalnoky in Erfüllung des Willens seines Kaisers mit einer derartigen 
Erklärung in der Parlamentsarena aufgetreten wäre. Natürlich würden die 
Worte des österreichisch-ungarischen Premiers nicht ohne tiefen Eindruck auf 
die deutschen Wähler bleiben, welche wenig Neigung bekundeten, Freunde 
der Militärvorlage in den neuen Reichstag zu entsenden. Unter solchen 
Verhältnissen könnten die Wahlen für den deutschen Reichstag nur ein Schau- 
spiel sein, an dem kein einziges der europäischen Reiche nach der Richtung 
hin interessiert sei, daß es dem jungen Deutschen Kaiser Erfolg wünschen 
könne. Wenn nun im neuzuwählenden Reichstage die Mehrheit aber doch 
für die Militärvorlage eintreten sollte, so werde die verstärkte Zahl der 
deutschen Armee nur diejenigen Unterthanen Kaiser Wilhelms II. erfreuen 
— diese aber auch vielleicht nur —, welche ihr Votum für die Vorlage ab- 
gegeben hätten, alle übrigen Deutschen aber würden gleich allen anderen 
europäischen Völkern auf Seiten Kalnokys stehen und seiner Auslegung der 
Thronrede des Kaisers Franz Joseph freudig zustimmen.“ 
Ein Leitartikel der russischen „Petersburger Zeitung“ sagt, daß, was 
den Eindruck anbetrifft, die Rede des Grafen Kalnoky mit den hochpolitischen 
Reden Bismarcks verglichen werden könne, welche seinerzeit die ganze Welt 
in Erstaunen setzten. Aber Thatsachen allein, nicht nur platonische Worte, 
könnten Rußland von der Aufrichtigkeit der ausgedrückten Wünsche über- 
zeugen. Und da mangelt es denn Oesterreich-Ungarn durchaus nicht an 
Material, um seine Gefühle und Absichten zu beweisen. Vor allen Dingen 
harre da die sich bis ins Unendliche hinziehende bulgarisch-koburgische Frage, 
welche nur durch die verschiedenen direkten und indirekten Manöver Oester- 
reich-Ungarns sich so hingezogen habe, ihrer Lösung. Wenn also nach dieser 
Richtung die österreichisch-ungarische Politik Rußland gegenüber wenn auch 
nicht freundschaftlich, so doch wenigstens loyal und korrekt handeln würde, 
zudem nicht nur offiziell, sondern auch de facto, so würde natürlich nie- 
mand der Erfüllung der so schönen Hoffnungen und Wünsche, welche in der 
„historischen“ Rede des Grafen Kalnoky ausgedrückt wurden, ein Hindernis 
in den Weg legen. Allgemein könne man sich ja nur über den friedlichen 
Inhalt und die über allem Zweifel erhabene Rede Kalnokys freuen — näm- 
lich, wenn man den schönen Worten auch die Thaten folgen lassen würde. 
Anfang Juni. Streit zwischen russischen und norwegischen 
Seehundsfischern im nördlichen Eismeer. 
12. Juni. (Petersburg.) Der Minister des Auswärtigen, 
v. Giers, übernimmt wiederum die Leitung des Auswärtigen Amtes.
	        
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