Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

278 Vas Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 30.) 
Freunde hätten gewünscht, in die Lage zu kommen, die Deckung auch in 
dem jetzt zur Debatte stehenden Teile mit der Mehlheit des Hauses be- 
schließen zu können. Für diesen Wunsch war die geschichtliche Ueberliefe- 
rung unserer Partei maßgebend, die stets alles daran gesetzt hat, die 
Rüstungsvorlagen sowie ihre Deckung mit der größten Opferwilligkeit und 
Bereitwilligkeit zu verabschieden. Wir hätten gewünscht, daß es möglich 
gewesen wäre, den Parteistreit. der 1909 entfacht worden ist, hier beiseite 
zu stellen. Wenn es uns nicht möglich ist, dem Vermögenszuwachssteuer- 
gesetz zuzustimmen, so liegt das daran, daß es bestimmte Grenzen gibt, 
über die hinaus wir unsere grundsätzliche Auffassung nicht zurückstellen 
können. Gegen das Besitzsteuergesetz haben wir verfassungs= und 
staatsrechtliche Bedenken ernster Art. Das Gesetz greift in das Finanz- 
system der Einzelstaaten materiell ein. Es ist nicht richtig, wenn gesagt 
wird, durch das Gesetz werde vermieden, daß das Reich Kostgänger der 
Einzelstaaten werde. Fürst Bismarck, der Erfinder dieses Wortes, hat nur 
den Standpunkt vertreten, daß wir alle Einnahmequellen, die nicht in das 
Finanzsystem der Einzelstaaten hineingreifen, dem Reich erschließen sollen. 
Durch das vorliegende Gesetz wird aber in das Gebiet der direkten Steuern 
eingegriffen, es wird den Einzelstaaten dadurch erschwert, ihre Kultur- 
aufgaben zu erfüllen. Den Gemeinden werden die Kräfte entzogen, und 
sie können ebenso wie die Einzelstaaten nicht mehr ungehindert ihre Ein- 
kommen- und Vermögenssteuern ausbauen. Trotz dieser Bedenken, die zum 
Teil auch auf die Regierungsvorlage zutrafen, hätten wir diese noch mit- 
machen können. Bei der Regierungsvorlage wäre es den Einzelstaaten. 
möglich gewesen, die Kosten so aufzubringen, wie es in ihr Finanzsystem 
paßt. Durch die Reichsvermögens-, Erbschafts- und Einkommensteuer wird 
dies den Einzelstaaten wesentlich erschwert. Deshalb rührt das Gesetz an 
die verfassungs= und staatsrechtliche Grundlage des Deutschen Reiches und 
an die Selbständigkeit der Einzelstaaten. Wenn noch irgend etwas möglich 
gewesen wäre, uns in dieser Auffassung zu bestärken, so wäre es die Hal- 
tung die Sozialdemokratie gewesen, so wären es die Ausführungen der 
sozialdemokratischen Abgcordneten, die uns deutlich bekundet haben, daß der 
Geist dieses Gesetzes sozialdemokratischer Geist ist. Die Sozialdemokraten 
haben auch gesagt, daß dieses Gesetz der erste Schritt sei auf dem Wege, 
den sie gehen wollen. Deshalb können wir unmöglich diesem Gesetz zu- 
stimmen. Es kommt noch hinzu, daß das Gesetz sich grundsätzlich auf den 
Standpunkt stellt, daß die Steuerpflicht der Landesfürsten von selbst ge- 
geben sei. Diesen Standpunkt müssen wir aus staatsrechtlichen Erwägungen 
heraus verwerfen. Außer diesen grundlegenden und staatsrechtlichen Er- 
wägungen kommen für uns aber auch noch die sonstigen Mängel dieses 
Gesetzes in Betracht: die Besteuerung der Ersparnisse und der Betriebs- 
verbesserungen, zu denen jeder solide persönliche Inhaber eines Handels-, 
Gewerbe= und landwirtschaftlichen Betriebes sich verpflichtet hält, die Be- 
stimmungen, welche das Erbe von Seitenverwandten einer Doppelbesteuerung 
unterwerfen, sind für uns unannehmbar. Die überwiegende Anzahl meiner 
Freunde kann auch der Besteuerung des Kindeserbes nicht zustimmen. Ich 
betone aber nochmals, daß für alle meine Freunde ausschlaggebend sind 
die Erwägungen verfassungs= und staatsrechtlicher Natur. Wir müssen des- 
halb gegen das Besitzsteuergesetz mit vereinzelten Ausnahmen stimmen. 
Wenn uns daraus der Vorwurf gemacht werden sollte, daß wir bei dem 
nationalen Werk der jetzigen Heeresverstärkung nicht bis zum letzten Ende 
mitgewirkt haben, so würde dieser Vorwurf unbegründet sein. Wir sind 
von Anfang an bereit gewesen, der Regierung die geforderten Mittel auf 
der Grundlage der Regierungsvorlage zur Verfügung zu stellen. Wir sind
	        
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