Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Greßbritannien. (März 5.) 167 
und den Geist von Verträgen unter die Füße zu treten, sondern den 
wahren Geist der Menschlichkeit selbst. Mit welch überwältigender Kraft 
wendet sich die Menschheit hilfesuchend an Hertling, wenn er von Rußland 
spricht, und wie wird sie als verächtliche Größe beiseite gestoßen, wenn er 
von Belgien spricht! Deutschland setzt seine Methode beharrlich und ohne 
Gewissensbisse fort. Das einzige, was wechselt, ist die Entschuldigung, die 
es für seine Politik anführt. Ich bin ganz außerstande, zu verstehen, wie 
ein Mann im Reichstag erklären kann, wie Hertling es tat, daß der Krieg, 
den Deutschland führt, ein Verteidigungskrieg sei. Er wurde von Deutsch- 
land provoziert und ausgeführt in Uebereinstimmung mit den bereits vor 
dem Kriege wohlbekannten und in Deutschland allgemein gebilligten Dok- 
trinen. Niemand, der mit den deutschen Zeitungen und Zeitschriften bekannt 
ist, kann übersehen, daß die alten Lehren unberührt weiter das geistige 
Leben eines sehr großen und keineswegs des unfähigsten Teiles ihrer Bevölke- 
rung beherrschen. Es ist ein großer Irrtum, daß der deutsche Militarismus 
nur die Herrschaft einer vereinzelt stehenden militärischen Kaste bedeute. Im 
Gegenteil ist es die wohlüberlegte Absicht eines großen bedeutenden Teiles des 
intellektuellen Deutschlands, alle Waffen, militärische wie wirtschaftliche, 
anzuwenden, um seinem Lande die beherrschende Stellung zu geben, die 
nach seiner Meinung Deutschlands Recht ist, und er kann es nicht ver- 
stehen, weshalb die übrige Welt nicht mit ihm übereinstimmt. Wenn man 
den Phrasen vom Verteidigungskriege und von der wirtschaftlichen Un- 
abhängigkeit auf den Grund geht, so findet man stets, daß Verteidigungs- 
krieg einen Krieg zur Vergrößerung des deutschen Gebiets bedeutet; und 
wirtschaftliche Sicherheit ist eine Wirtschaftspolitik, die eine andere Nation 
in wirtschaftliche Fesseln schlagen will. B. vergleicht zum Schluß die Ex- 
pansion der Briten und der Deutschen und sagt, die Deutschen hätten eine 
Leidenschaft für allgemeine Expansion und die ausgesprochene Absicht, nicht 
nur Deutschland zu einem großen Reiche zu machen, sondern den Rest der 
zivilisierten Welt zu ihren Füßen kriechen zu lassen. Diese Absicht mache 
die diplom. Besprechungen so schwierig, die dem Frieden vorangehen müßten, 
und nach denen sich niemand mehr sehne als er selbst und seine Kollegen. 
Diese Besprechungen müßten statifinden. Aber wie könnten sie es, wenn 
Hertlings Rede das Höchstmaß der deutschen Zugeständnisse darstelle? Glaube 
Holt, daß die Besprechungen, bei den Theorien, die Hertlings Rede vertritt, 
mit einer Verständigung enden könnten? Und wären nicht Besprechungen, 
die in Zwietracht enden, schlimmer als gar keine? Verhandlungen zu be- 
ginnen, ehe Aussicht bestehe, sie erfolgreich durchführen zu können, hieße 
das größte Verbrechen gegen den künftigen Weltfrieden begehen. 
Gegenüber den Ausführungen Balfours über Belgien weist die 
„Nordd. Allg. Ztg.“ am 2. März in einem Sonderartikel mit dem Titel 
„Balfours Geschichtsfälschung“ erneut auf die von der deutschen Regierung 
im Herbst 1914 aus den Archiven des belg. Generalstabs veröffentlichten 
Schriftstücken hin, aus denen sich ergab, daß die belg. Regierung, indem sie 
den engl. Einflüsterungen Gehör schenkte, sich eine schwere Verletzung der ihr 
als neutraler Macht obliegenden Pflichten habe zuschulden kommen lassen. 
5. März. Ein neuer Friedensbrief Lord Lansdownes. 
Der „Daily Telegraph“ veröffentlicht ein zweites Schreiben Lord 
Lansdownes (über das erste s. Gesch Kal. 1917 Tl. 2 S. 363 ff.), worin er 
die Ueberzeugung ausspricht, daß die letzte Rede des Grafen Hertling (s. Tl. 1 
S. 86 f.) einen wichtigen Fortschritt in dem Gedankenaustausch bedeute, erstens: 
weil die Rede den Wunsch ausdrücke, daß die verantwortlichen Vertreter der 
Kriegführenden eine vertrauliche Zusammenkunft abhalten sollen, um in
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.