Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

100 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
den größten wissenschaftlichen Kopf des Zeitalters besaß. Den Gegen- 
satz der deutschen und der französisch-englischen Weltanschauung bezeichnete 
Goethe mit den einfachen Worten: „Die Franzosen begreifen nicht, daß 
etwas im Menschen sei, wenn es nicht von außen in ihn hineingekommen 
ist." Dem deutschen Idealismus erschien umgekehrt gerade dies räthsel- 
haft: wie etwas von außen in die Seele hineingelangen könne. Der 
Aufklärung des Westens galt die Welt der sinnlichen Erfahrung als die 
schlechthin unbestreitbare Wirklichkeit; da unternahm Kant die Thatsachen 
der menschlichen Erkenntniß zu erklären und stellte die tiefe Frage: wie 
ist ein wissenschaftliches Erkennen der Natur überhaupt möglich? Es war 
der große Wendepunkt der neuen Philosophie. Mit dem gleichen könig- 
lichen Selbstgefühle wie Goethe hatte Kant die Arbeit seines Lebens be- 
gonnen: „nichts soll mich hindern meinen Lauf fortzusetzen;“" er war aus- 
gegangen von den Ideen des mathematischen Jahrhunderts und darauf 
jeder Bewegung der neueren Jahrzehnte selbständig gefolgt. Gegen das 
Ende des fridericianischen Zeitalters trat er dann mit jenen Werken her- 
vor, welche die sittlichen Grundgedanken des gereiften Protestantismus 
auf lange hinaus feststellten. Verwegener als irgend einer der Gottes- 
leugner der Encyclopädie bekämpfte er den Wahn, als ob es je eine 
Wissenschaft vom Uebersinnlichen geben könne; doch auf dem Gebiete der 
praktischen Vernunft fand er die Idee der Freiheit wieder. Aus der 
Nothwendigkeit des sittlichen Handelns ergab sich ihm, nicht gestützt auf 
theologische Krücken und eben darum unwiderstehlich siegreich, die große 
Erkenntniß, daß das Unbegreiflichste das Allergewisseste ist: das empirische 
Ich unterliegt den Gesetzen der Causalität, das intelligible Ich handelt 
mit Freiheit. Und dem freien Handeln stellte er jenen Imperativ, bei 
dem die Einfalt wie die höchste Bildung ihren Frieden finden konnte: 
handle so, als ob die Maxime deines Handelns Naturgesetz werden müßte. 
Auch Kant's Gedanken, wie Alles was diese lebensprühende Zeit geschrieben 
hat, empfingen ihre volle Wirkung erst durch die Macht der Persönlichkeit. 
Die heitere Weisheit des Königsberger Denkers, der von dem Menschen 
forderte, daß er selbst in guter Laune sterben müsse, die schlichte Größe 
dieses ganz von der Idee erfüllten Lebens packte die Gewissen. Kant 
wurde der Bildner seiner altpreußischen Heimath, er hat die entlegene 
Ostmark wieder als ein thätiges Glied in die Werkstatt deutscher Geistes- 
arbeit zurückgeführt; und die Erhebung von 1813 bewährte, wie tief dem 
tapferen Volke das Wort zu Herzen gedrungen war, daß überall nichts 
in der Welt für gut dürfe gehalten werden, als allein ein guter Wille. 
Und schon erhob sich der junge Dichter, der bestimmt war dereinst 
die Ideen der Kantischen Ethik in den weitesten Kreisen der Nation zu 
verbreiten. Roh und formlos erschienen Schiller's Jugendwerke, wie sie 
eine unbändige Willenskraft dem Zwange kleinlich unfreier Verhältnisse 
abgetrotzt hatte; doch der kühne Wurf der Fabel, das mächtige Pathos,
	        
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