100 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
den größten wissenschaftlichen Kopf des Zeitalters besaß. Den Gegen-
satz der deutschen und der französisch-englischen Weltanschauung bezeichnete
Goethe mit den einfachen Worten: „Die Franzosen begreifen nicht, daß
etwas im Menschen sei, wenn es nicht von außen in ihn hineingekommen
ist." Dem deutschen Idealismus erschien umgekehrt gerade dies räthsel-
haft: wie etwas von außen in die Seele hineingelangen könne. Der
Aufklärung des Westens galt die Welt der sinnlichen Erfahrung als die
schlechthin unbestreitbare Wirklichkeit; da unternahm Kant die Thatsachen
der menschlichen Erkenntniß zu erklären und stellte die tiefe Frage: wie
ist ein wissenschaftliches Erkennen der Natur überhaupt möglich? Es war
der große Wendepunkt der neuen Philosophie. Mit dem gleichen könig-
lichen Selbstgefühle wie Goethe hatte Kant die Arbeit seines Lebens be-
gonnen: „nichts soll mich hindern meinen Lauf fortzusetzen;“" er war aus-
gegangen von den Ideen des mathematischen Jahrhunderts und darauf
jeder Bewegung der neueren Jahrzehnte selbständig gefolgt. Gegen das
Ende des fridericianischen Zeitalters trat er dann mit jenen Werken her-
vor, welche die sittlichen Grundgedanken des gereiften Protestantismus
auf lange hinaus feststellten. Verwegener als irgend einer der Gottes-
leugner der Encyclopädie bekämpfte er den Wahn, als ob es je eine
Wissenschaft vom Uebersinnlichen geben könne; doch auf dem Gebiete der
praktischen Vernunft fand er die Idee der Freiheit wieder. Aus der
Nothwendigkeit des sittlichen Handelns ergab sich ihm, nicht gestützt auf
theologische Krücken und eben darum unwiderstehlich siegreich, die große
Erkenntniß, daß das Unbegreiflichste das Allergewisseste ist: das empirische
Ich unterliegt den Gesetzen der Causalität, das intelligible Ich handelt
mit Freiheit. Und dem freien Handeln stellte er jenen Imperativ, bei
dem die Einfalt wie die höchste Bildung ihren Frieden finden konnte:
handle so, als ob die Maxime deines Handelns Naturgesetz werden müßte.
Auch Kant's Gedanken, wie Alles was diese lebensprühende Zeit geschrieben
hat, empfingen ihre volle Wirkung erst durch die Macht der Persönlichkeit.
Die heitere Weisheit des Königsberger Denkers, der von dem Menschen
forderte, daß er selbst in guter Laune sterben müsse, die schlichte Größe
dieses ganz von der Idee erfüllten Lebens packte die Gewissen. Kant
wurde der Bildner seiner altpreußischen Heimath, er hat die entlegene
Ostmark wieder als ein thätiges Glied in die Werkstatt deutscher Geistes-
arbeit zurückgeführt; und die Erhebung von 1813 bewährte, wie tief dem
tapferen Volke das Wort zu Herzen gedrungen war, daß überall nichts
in der Welt für gut dürfe gehalten werden, als allein ein guter Wille.
Und schon erhob sich der junge Dichter, der bestimmt war dereinst
die Ideen der Kantischen Ethik in den weitesten Kreisen der Nation zu
verbreiten. Roh und formlos erschienen Schiller's Jugendwerke, wie sie
eine unbändige Willenskraft dem Zwange kleinlich unfreier Verhältnisse
abgetrotzt hatte; doch der kühne Wurf der Fabel, das mächtige Pathos,