Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

150 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
Gebrechen, daran der erstarrte Staat krankte; als die Zerstörung über 
das alte Preußen hereinbrach, da sprach sich der König mit einer Klar- 
heit, die seiner Umgebung schier unheimlich erschien, über die Ursachen 
des tiefen Sturzes aus. Auch über die Mittel und Wege zur Besserung 
dachte er oft, und mit eindringendem Verständniß nach; es war die volle 
Wahrheit, wenn er späterhin auf die meisten Reformvorschläge Stein's 
und Scharnhorst's zu antworten pflegte: „diese Idee habe ich schon längst 
gehabt.“ Nur das Eine, worauf Alles ankam, erkannte er nicht: die 
Unmöglichkeit, durch Einzelreformen an dem fridericianischen Staate etwas 
Wesentliches zu ändern. 
Jenes harte System monarchischer Arbeitsvertheilung, das der erste 
Friedrich Wilhelm und sein Sohn aufgerichtet, war das Ergebniß eines plan- 
vollen bewußten Willens; darin lag die einseitige Größe, der Charakter des 
alten Preußens. Das ganze Werk war aus einem Gusse, wie von eisernen 
Klammern gehalten; ein Pfeiler stützte den andern, die Gliederung der 
Stände und die Ordnung der Verwaltung hingen untrennbar zusammen; 
fiel ein Stein heraus, so stürzte das ganze Gebäude. Wollte man die 
Vorrechte des Adels im Heere beseitigen, so mußte dem Edelmann erlaubt 
werden bürgerliche Gewerbe zu treiben und Bauernhufen zu kaufen. Wollte 
man den Bauern der Dienste und Frohnden entlasten, so konnte auch 
die Trennung von Stadt und Land, das Zunftwesen und die Accise nicht 
mehr aufrecht bleiben. Die Monarchie bedurfte einer Reform an Haupt 
und Gliedern, sobald man einmal erkannte, daß die alten Formen der 
Gesellschaft sich überlebt hatten. Aber zu solcher Einsicht war in Preußen 
noch Niemand gelangt, auch nicht der Freiherr vom Stein. 
Das erste Jahrzehnt Friedrich Wilhelm's III., die bestverleumdete 
und unbekannteste Epoche der preußischen Geschichte, war eine Zeit wohl- 
gemeinter, aber völlig unfruchtbarer Reformversuche. Vor wenigen Jahren 
noch war dieser Staat mit Recht als der bestregierte des Festlandes ge- 
priesen worden; er hatte soeben erst — so wähnte der gesammte Norden 
— im Kampfe gegen die Revolution seine Lebenskraft bewährt. Und so 
geschah, daß selbst der tadelsüchtige Freimuth der Norddeutschen kaum be- 
merkte, wie Alles morsch ward in dem Gemeinwesen. Daß das neue 
Jahrhundert auf Windesflügeln dahineilte, daß jetzt in kurzen Jahren 
gewaltige Neubildungen der Geschichte sich vollzogen, welche vordem kaum 
in Jahrzehnten gereift waren, daß in solchen Tagen zurückging wer nicht 
vorwärts schritt, — von diesem großen Wandel der Zeiten ahnte man 
nichts in dem friedlichen Volke, das hinter dem Walle seiner Demar- 
cationslinie mit philosophischer Ruhe beobachtete, wie „zwo gewalt'ge 
Nationen ringen um der Welt alleinigen Besitz"“. 
Die deutsche Gutherzigkeit ist immer geneigt von einem Thronfolger 
das Höchste zu erwarten, doch selten hat sie in so überschwänglichen Hoff- 
nungen geschwelgt wie bei dem Regierungsantritt dieses anspruchslosen
	        
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