150 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
Gebrechen, daran der erstarrte Staat krankte; als die Zerstörung über
das alte Preußen hereinbrach, da sprach sich der König mit einer Klar-
heit, die seiner Umgebung schier unheimlich erschien, über die Ursachen
des tiefen Sturzes aus. Auch über die Mittel und Wege zur Besserung
dachte er oft, und mit eindringendem Verständniß nach; es war die volle
Wahrheit, wenn er späterhin auf die meisten Reformvorschläge Stein's
und Scharnhorst's zu antworten pflegte: „diese Idee habe ich schon längst
gehabt.“ Nur das Eine, worauf Alles ankam, erkannte er nicht: die
Unmöglichkeit, durch Einzelreformen an dem fridericianischen Staate etwas
Wesentliches zu ändern.
Jenes harte System monarchischer Arbeitsvertheilung, das der erste
Friedrich Wilhelm und sein Sohn aufgerichtet, war das Ergebniß eines plan-
vollen bewußten Willens; darin lag die einseitige Größe, der Charakter des
alten Preußens. Das ganze Werk war aus einem Gusse, wie von eisernen
Klammern gehalten; ein Pfeiler stützte den andern, die Gliederung der
Stände und die Ordnung der Verwaltung hingen untrennbar zusammen;
fiel ein Stein heraus, so stürzte das ganze Gebäude. Wollte man die
Vorrechte des Adels im Heere beseitigen, so mußte dem Edelmann erlaubt
werden bürgerliche Gewerbe zu treiben und Bauernhufen zu kaufen. Wollte
man den Bauern der Dienste und Frohnden entlasten, so konnte auch
die Trennung von Stadt und Land, das Zunftwesen und die Accise nicht
mehr aufrecht bleiben. Die Monarchie bedurfte einer Reform an Haupt
und Gliedern, sobald man einmal erkannte, daß die alten Formen der
Gesellschaft sich überlebt hatten. Aber zu solcher Einsicht war in Preußen
noch Niemand gelangt, auch nicht der Freiherr vom Stein.
Das erste Jahrzehnt Friedrich Wilhelm's III., die bestverleumdete
und unbekannteste Epoche der preußischen Geschichte, war eine Zeit wohl-
gemeinter, aber völlig unfruchtbarer Reformversuche. Vor wenigen Jahren
noch war dieser Staat mit Recht als der bestregierte des Festlandes ge-
priesen worden; er hatte soeben erst — so wähnte der gesammte Norden
— im Kampfe gegen die Revolution seine Lebenskraft bewährt. Und so
geschah, daß selbst der tadelsüchtige Freimuth der Norddeutschen kaum be-
merkte, wie Alles morsch ward in dem Gemeinwesen. Daß das neue
Jahrhundert auf Windesflügeln dahineilte, daß jetzt in kurzen Jahren
gewaltige Neubildungen der Geschichte sich vollzogen, welche vordem kaum
in Jahrzehnten gereift waren, daß in solchen Tagen zurückging wer nicht
vorwärts schritt, — von diesem großen Wandel der Zeiten ahnte man
nichts in dem friedlichen Volke, das hinter dem Walle seiner Demar-
cationslinie mit philosophischer Ruhe beobachtete, wie „zwo gewalt'ge
Nationen ringen um der Welt alleinigen Besitz"“.
Die deutsche Gutherzigkeit ist immer geneigt von einem Thronfolger
das Höchste zu erwarten, doch selten hat sie in so überschwänglichen Hoff-
nungen geschwelgt wie bei dem Regierungsantritt dieses anspruchslosen