Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Unfruchtbare Reformversuche. 153 
Armee war fortan allein auf preußische Kräfte angewiesen; sollte sie die 
dringend gebotene Verstärkung erhalten, so mußte mindestens ein Theil 
der privilegirten Klassen zum Waffendienste herangezogen werden, und 
dies war unmöglich, so lange das Offizierscorps wie eine geschlossene 
Kaste in unnahbarer Höhe über der Mannschaft thronte, so lange jene 
grausame alte Kriegszucht bestand, welche den philantropischen, bis zur 
Weichlichkeit milden Anschauungen des Zeitalters in's Gesicht schlug. So- 
bald der alte Stamm der geworbenen Ausländer ausstarb, war ein radi- 
caler Umbau der Heeresverfassung unvermeidlich, das will sagen: eine 
völlige Verschiebung aller gewohnten ständischen Verhältnisse, vor Allem 
der Stellung des Adels in Staat und Gesellschaft. 
Mannigfache Reformvorschläge tauchten auf. Einige freie Köpfe 
unter den jüngeren Beamten, wie Hippel und Vincke, verlangten schon 
die vollständige Durchführung des altpreußischen Gedankens der allge- 
meinen Wehrpflicht; Knesebeck, Rüchel und andere Offiziere empfahlen 
die Bildung einer Landmiliz. Aber einerseits sträubte sich der Dünkel 
der alten Generale gegen alle Aenderungen. Jedermann glaubte noch 
an die Unübertrefflichkeit des fridericianischen Heeres. Sogar Friedrich 
Gentz, der zum Aergerniß der zahmen Zeit sich unterstand ein ermah- 
nendes Sendschreiben an den neuen Monarchen zu richten, sagte über 
das Heer kurzweg: „von dieser Seite bleibt uns nichts zu wünschen 
übrig;" und Blücher, der Mann ohne Menschenfurcht, sprach noch im 
Frühjahr 1806 unbedenklich von unserer unbesiegbaren Armee. Wenn 
nun der hochmüthige alte Feldmarschall Möllendorff jeden Neuerungsvor- 
schlag mit seinem schnarrenden „das ist vor mir zu hoch“" begrüßte, dann 
wollte der König — er hat es später bitter bereut — nicht klüger sein 
als die Grauköpfe von bewährtem Ruhme. Auf der andern Seite regte 
sich in der aufgeklärten Welt eine doctrinäre Friedensseligkeit, die zu der 
blutigen Staatspraxis des neuen Jahrhunderts einen lächerlichen Gegen- 
satz bildete und gleichwohl bei der deutschen Gemüthlichkeit lebhaften An- 
klang fand. Salbungsvolle Flugschriften erörterten schon die Frage: „sind 
stehende Heere in Friedenszeiten nöthig?“" Es bezeichnet den inneren 
Zerfall des gestrengen Absolutismus, daß solche Stimmen aus dem 
Publikum jetzt einigen Eindruck machten, daß man anfing mit der öffent- 
lichen Meinung zu rechnen. Am Hofe vertrat Mencken mit Eifer die 
alte Ansicht des Beamtenthums, daß die Last der Heereskosten zu schwer 
sei; auch der König wollte nur das Unerläßliche thun, da er vor Allem 
die unter seinem Vater angesammelte Schuldenlast abzutragen wünschte. 
Dazu endlich die verzweifelte Frage: wie aus den widerspänstigen Polen 
zuverlässige Regimenter gebildet werden sollten? 
So zwischen entgegengesetzten Erwägungen hin und her geschleudert 
gelangte man nach unzähligen Bedenken und Vorschlägen zu keiner wesent- 
lichen Reform. Das Heer wurde um ein Geringes, auf 250,000 Mann
	        
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