Die goldenen Tage von Weimar. 195
war die Nation nicht fähig den Gedanken ihres tapfersten Sohnes zu
folgen. —
Und doch war dies Land kein Polen, und doch lebte in diesem Volke,
das so gleichmüthig die Nackenschläge der Fremden dahin nahm, das freu—
dige Bewußtsein einer großen Bestimmung. Dasselbe Jahrzehnt, das den
alten deutschen Staat in's Grab führte, brachte der neuen Dichtung ihre
reinsten Erfolge. Wie weit zurück schien jetzt schon die Zeit zu liegen, da
Klopstock einst pochenden Herzens die deutsche Muse in den ungewissen
Streitlauf stürmen sah; nun sang Schiller mit ruhigem Stolze: wir dürfen
muthig einen Lorbeer zeigen, der auf dem deutschen Pindus selbst gegrünt!
Die Deutschen wußten längst, daß sie den Schatz der überlieferten euro—
päischen Bildung mit neuen, selbständigen Idealen bereichert hatten und
in der großen Gemeinschaft der Culturvölker einen Platz einnahmen, den
Niemand sonst auf der Welt ausfüllen konnte. Begeistert sprach die Jugend
von deutscher Tiefe, deutschem Idealismus, deutscher Universalität. Frei
hinwegzuschauen über alle die trennenden Schranken des endlichen Da—
seins, nichts Menschliches von sich fern zu halten, in lebendiger Gemein—
schaft mit den Besten aller Völker und Zeiten das Reich der Ideen zu
durchmessen — das galt für deutsch, das ward als Vorrecht deutscher Art
und Bildung gepriesen. Der Nationalstolz dieses idealistischen Geschlechtes
fand sich befriedigt in dem Gedanken, daß kein anderes Volk den ver—
messenen Flügen des deutschen Genius ganz zu folgen, zu der Freiheit
unseres Weltbürgersinnes sich emporzuschwingen vermöge.
In der That trug unsere classische Literatur das scharfe Gepräge
nationaler Eigenart, und Frau von Stabl selbst gestand: wer nicht, wie
sie, halbdeutsches Blut in den Adern habe werde sich kaum versucht fühlen
der wundersamen Eigenthümlichkeit des deutschen Denkens nachzuspüren.
Alle Thatkraft, alle Leidenschaft unserer Jugend ging in diesen literarischen
Kämpfen auf, die nun bereits die dritte Generation deutscher Männer in
ihren Zauberkreis zogen. Eine unübersehbare Menge neuer Ideen war
im Umlauf; ein argloser Fremder — auch dies ist ein Geständniß der
geistreichen Französin — konnte einen gewandten deutschen Schwätzer, der
nur Anderer Gedanken nachsprach, leicht für ein Genie halten. Jener
unersättliche Drang nach Mittheilung, der allen geistig productiven Zeit-
altern gemein ist, machte sich Luft durch einen massenhaften gehaltreichen
Briefwechsel. Wie einst Hutten jede neue Offenbarung, die ihm aufging,
alsbald frohlockend seinen humanistischen Freunden verkündigte, so schaarte
sich jetzt die unsichtbare Kirche der deutschen Gebildeten zu gemeinsamer
freudiger Andacht zusammen. Im Gerichtssaale hinter den Actenstößen
verschlang der Vater Theodor Körner's begierig die Werke der weimarischen
Freunde; und wie oft ist Prinz Louis Ferdinand, als er mit seinem Regi-
mente in Westphalen stand, nach durchschwelgter Nacht früh morgens nach
Lemgo hinübergeritten, um mit dem Rector Reinert über Sophokles und
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