208 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
Wiege der Menschheit in Indien, bis zu den stillen Naturvölkern in den
vergessenen Winkeln der Erde. Ueberall wo nur die Allerzeugerin Poesie
in Sprache, Kunst und Religion sich entfaltet hatte, suchte man sie auf
und strebte ihre Offenbarungen dem deutschen Genius zu vermählen:
wie einst die Römer die Götterbilder der Unterworfenen in ihrem Pan-
theon aufstellten, so sollte das neue Herrschervolk im Reiche des Geistes,
das alle anderen Nationen zu durchschauen und zu überschauen meinte,
die Dichtungen aller Länder in getreuen Nachbildungen sich zu eigen
machen. Der feine Formensinn und die sinnige weibliche Empfänglichkeit
A. W. Schlegel's brachten die deutsche Uebersetzerkunst zur Blüthe. Rasch
nach einander erschienen Shakespeare, Cervantes, Calderon, eine Menge
anderer glücklicher Uebersetzungen. Die deutsche Poesie zeigte sich jeder
noch so fremdartigen Aufgabe gewachsen, ja sie lief schon Gefahr einer
virtuosen Formenspielerei zu verfallen, die ihrem innersten Wesen wider-
sprach: denn in allen ihren großen Zeiten hatten die Germanen den In-
halt höher geschätzt als die Form. Aber einen unschätzbaren, bleibenden
Gewinn brachten die kühnen Entdeckerfahrten der Romantiker: in ihrem
Kreise zuerst erwachte der historische Sinn, der dem philosophischen Jahr-
hundert immer fremd geblieben. In seinen literarhistorischen Vorlesungen
führte A. W. Schlegel, an Herder's Ahnungen anknüpfend, den großen
Gedanken durch, daß die Kunst im nationalen Boden wurzele, daß jedes
Volkes Sprache, Religion und Dichtung als ein nothwendiges Werden,
als die Entfaltung des Volksgeistes zu verstehen sei. So ward der Grund
gelegt, auf dem sich dereinst der stolze Bau der vergleichenden Sprach-
forschung, der Literatur= und Kunstgeschichte erheben sollte.
Und eben dies Schweifen in die Ferne führte die Romantiker wieder
zur Heimath zurück. Da sie überall in der Geschichte nach dem Volks-
thümlichen und Ursprünglichen suchten, so gelangten sie endlich auf selt-
samen Umwegen zu der Frage: wie sich denn dies neue deutsche Volk
gebildet habe? Sie faßten sich das Herz dem vaterländischen Alterthume
wieder in's Gesicht zu schauen, und es erschien dem neuen Geschlechte zuerst
so fremd, wie dem Manne sein eigenes Knabenbildniß. Die Deutschen
entdeckten mit freudiger Beschämung, wie lächerlich wenig sie doch von dem
Reichthum des eigenen Landes gekannt hatten. Die verrufene finstere Nacht
des Mittelalters leuchtete wieder in freudigem Glanze. Ein farbenreiches
Gewimmel fremdartiger Gestalten, Mönche und Minnesänger, heilige
Frauen und Gottesstreiter, bewegte sich vor den entzückten Blicken; die
Stauferkaiser, deren Name kaum noch in Schwaben dem Volke bekannt
war, erschienen wieder als die ritterlichen Helden der Nation. Der Händler
auf den Jahrmärkten, der die Löschpapierausgaben alter Volksbücher für
den kleinen Mann feil bot, setzte seine Waare jetzt zuweilen auch an gelehrte
Herren ab. Die vornehmen Leute horchten auf, wenn die Magd den Kin-
dern Märchen erzählte, und unter den Eingeweihten ging die Rede, daß