Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Föderalismus und Territorialismus. 17 
ordnung niemals festen Boden gewonnen. Hier waren die geistlichen 
Gebiete seit dem Westphälischen Frieden fast gänzlich vernichtet, die 
mächtigen weltlichen Fürsten meinten sich selber zu genügen. Wie aus 
einer hellen modernen Welt blickte der Norddeutsche hochmüthig hinüber 
nach jenem bunten Gewirr der Kleinstaaterei im Südwesten, das er 
spottend „das Reich" nannte. Was noch jung und stark war im alten 
Deutschland, strebte aus den beengenden Formen der Reichsverfassung 
hinaus. 
Der Particularismus des weltlichen Fürstenthums blieb doch die 
lebendigste politische Kraft im Reiche. Das heilige Reich war in der 
That, wie Friedrich der Große es nannte, die erlauchte Republik deutscher 
Fürsten. Seine Stände besaßen seit dem Westphälischen Frieden das 
Recht der Bündnisse und die Landeshoheit in geistlichen wie in welt- 
lichen Dingen, eine unabhängige Staatsgewalt, die nur noch des Namens 
der Souveränität entbehrte. Sie trotzte der Reichsgewalt, wie das Leben 
dem Tode trotzt. Keiner der auf den Trümmern der alten Stammes- 
herzogthümer emporgewachsenen weltlichen Staaten umfaßte ein abgerun- 
detes Gebiet, keiner einen selbständigen deutschen Stamm; sie dankten 
allesammt ihr Dasein einer dynastischen Staatskunst, die durch Krieg und 
Heirath, durch Kauf und Tausch, durch Verdienst und Verrath einzelne 
Fetzen des zerrissenen Reiches zusammenzuraffen und festzuhalten verstand. 
Diese Hauspolitik ergab sich nothwendig aus der Reichsverfassung selber. 
Die Nation war mediatisirt, nur die Herrengeschlechter galten als Reichs- 
unmittelbare; auf dem Reichstage waren nicht die Staaten, sondern die 
Fürstenhäuser vertreten; das Glaubensbekenntniß des fürstlichen Hauses, 
nicht des Volkes, entschied über die Frage, ob ein Reichsstand den Evan- 
gelischen oder den Katholiken zuzuzählen sei; kurz, das Reichsrecht kannte 
keine Staaten, sondern nur Land und Leute fürstlicher Häuser. Die 
Wechselfälle einer wirrenreichen Geschichte hatten die Grenzen der Terri- 
torien beharrlich durch einander geschoben, jede Achtung vor dem Besitz- 
stande der Genossen, jeden eidgenössischen Rechtssinn im deutschen Fürsten- 
stande ertödet. Begehrlich sah der Nachbar auf des Nachbars Land, 
stets bereit mit fremder Hilfe den Landsmann zu überwältigen. Die 
Ländergier und der Dynastenstolz der großen Fürstengeschlechter bedrohten 
das Reich mit gänzlichem Zerfalle. Längst strebten Sachsen und Baiern 
nach der Königskrone; Kurpfalz hoffte seine niederrheinischen Lande zu 
einem Königreich bei Rhein zu erheben und also der Oberhoheit des 
Reiches ledig zu werden. 
Gleichwohl lag in dem Leben dieser weltlichen Fürstenthümer nahezu 
Alles umschlossen, was noch deutsche Politik heißen konnte. Es bleibt 
der historische Ruhm unseres hohen Adels, daß Deutschlands Fürsten die 
der nationalen Monarchie entrissene Macht nicht wie die polnischen 
Magnaten allein verwendeten, um die Pracht und den Glanz ihres 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. 1. 2
	        
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