Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Wehrlosigkeit des Reichs. 21 
haften Treiben der neuen Residenzen der Bürgerstolz nicht gedeihen wollte, 
so wurde das Land, dessen hansische Helden einst die Königskronen Skan— 
dinaviens verschenkten, zum classischen Boden kleinstädtischer Armseligkeit. 
Deutschland bot das in aller Geschichte unerhörte Schauspiel eines alten 
Volkes ohne eine Großstadt. Nirgends ein Brennpunkt des nationalen 
Lebens, wie ihn die Nachbarvölker in London, Paris und Madrid, ja 
selbst in Kopenhagen, Stockholm und Amsterdam besaßen. Nirgends eine 
Stelle, wo die Parteikämpfe eines politischen Adels mit der Bildung und 
dem Reichthum eines selbstbewußten Bürgerthums befruchtet und befruch— 
tend sich berührten. Alle Kräfte der Nation streben in unendlicher Zer— 
splitterung auseinander, in tausend Rinnsalen versiegend gleich dem deut— 
schen Strome: jeder Stand, jede Stadt, jede Landschaft eine Welt für 
sich selber. 
Die ganze Schmach dieser Zersplitterung zeigte sich in der Wehr— 
losigkeit des Reichs. In den Zeiten seiner Größe hatte Deutschland seine 
gefährdete Ostgrenze mit dem eisernen Gürtel der kriegsbereiten Marken 
umschlossen. Jetzt, da beständig vom Westen her der Angriff drohte, lagen 
dicht vor Frankreichs begehrlichen Händen die schwächsten, die waffenlosen 
Glieder des Reichs. Die lange Pfaffengasse des Rheines entlang erstreckte 
sich von Münster und Osnabrück bis nach Constanz hinauf ein Gewirr 
winziger Staaten, unfähig zu jeder ernsthaften Kriegsrüstung, durch das 
Gefühl der Ohnmacht zum Landesverrathe gezwungen. Fast alle rheini- 
schen Höfe bezogen Pensionen aus Versailles; der erste Rheinbund von 
1658 ward von begeisterten Reichspatrioten als ein rühmliches Unter- 
nehmen zum Schutze deutscher Freiheit gepriesen. Ein Gebiet von fast 
dreitausend sechshundert Geviertmeilen gehörte solchen Kleinstaaten, deren 
keiner mehr als 130 Geviertmeilen umfaßte; der Volkswitz verhöhnte die 
strümpfestrickenden Kölnischen Stadtsoldaten und das grimmige Kriegs- 
volk des Bischofs von Hildesheim, das auf seinen Hüten die Juschrift 
trug: Gieb Frieden, Herr, in unsern Tagen! Dies reichste Drittel 
Deutschlands diente in den Kriegen des Reichs nur als todte Last. Es 
bleibt ein glänzendes Zeugniß für die deutsche Tapferkeit, daß die Nation 
nach solcher Selbstverstümmelung von den Herren Frankreichs und Schwe- 
dens nicht gänzlich überwältigt wurde. Die Gesammtheit des Reichs galt 
kaum noch als eine Macht zweiten Ranges, während seine mächtigeren 
Glieder längst schon selbständig auf der freien Bühne der europäischen 
Politik sich bewegten. 
Die Reichsverfassung erscheint wie ein wohldurchdachtes System, er- 
sonnen um die gewaltigen Kräfte des waffenfrohesten der Völker künstlich 
niederzudrücken. In der That wurde der unnatürliche Zustand nur 
durch die Wachsamkeit des gesammten Welttheils aufrecht erhalten. Das 
heilige Reich blieb durch seine Schwäche, wie einst durch seine Stärke, 
der Mittelpunkt und die Grundlage des europäischen Staatensystems.
	        
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