Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

22 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
Auf der Ohnmacht Deutschlands und Italiens ruhte die neue Macht- 
stellung von Oesterreich und Frankreich, von Schweden, Dänemark und 
Polen, wie die Seeherrschaft der Briten und die Unabhängigkeit der 
Schweiz und der Niederlande. Eine stille Verschwörung des gesammten 
Auslandes hielt die Mitte des Festlands gebunden. Die Fremden lachten 
der querelles allemandes und der miseère allemande; der Franzose 
Bouhours stellte die höhnische Frage: ob es möglich sei, daß ein Deutscher 
Geist haben könne? Niemals früher war die Nation von den Nachbarn 
so tief verachtet worden; nur den alten Ruhm deutscher Waffentüchtigkeit 
wagte man nicht zu bestreiten. Der politische Zustand aber, der dies 
schmähliche Sinken des deutschen Ansehens verschuldete, ward überall in 
der Welt als die feste Bürgschaft des europäischen Friedens gepriesen; 
und dies Volk, das vormals durch seinen Hochmuth so übel berüchtigt 
gewesen wie heute die Briten, sprach gelehrig nach, was die Eifersucht 
der Nachbarn erfand, gewöhnte sich das Vaterland mit den Augen der 
Fremden zu betrachten. Die deutsche Staatswissenschaft des achtzehnten 
Jahrhunderts bereichert die alten Wahnbegriffe von deutscher Freiheit noch 
durch das neue Schlagwort der Freiheit Europas. Alle unsere Publicisten 
bis herab auf Pütter und Johannes Müller warnen die friedliebende 
Welt vor der verderblichen Macht der deutschen Einheit und schließen das 
Lob des heiligen Reichs mit der inbrünstigen Mahnung: wehe der Freiheit 
des Welttheils, wenn die hunderttausende deutscher Bajonette jemals 
Einem Herrscher gehorchten! 
Eine unerforschlich weise Waltung züchtigt die Völker durch dieselben 
Gaben, welche sie einst frevelhaft mißbrauchten. Die Weltstellung, die 
angeborene Eigenart und der Gang der Geschichte gaben unserem Volke 
von früh auf einen Zug vielseitiger weltbürgerlicher Weitherzigkeit. Die 
deutsche Nation besaß ein natürliches Verständniß für die romanische 
Welt: war doch einst das romanische Volksthum durch deutsche Eroberer 
auf den Trümmern der römischen Gesittung begründet worden; sie war 
den Briten wie dem skandinavischen Norden blutsverwandt, mit den 
Slaven von Alters her durch Krieg und Handel wohlvertraut; im Mittel- 
alter hatte sie als ein Volk der Mitte vom Süden und Westen her Cultur 
empfangen, dem Norden und Osten Cultur gegeben. So wurde sie das 
weltbürgerlichste der Völker, empfänglicher noch für fremdes Wesen als 
ihre Schicksalsgenossen, die Italiener. Der Drang in die Ferne ward 
uns zum Verhängniß, in ihm lag die Schuld und die Größe des deutschen 
Lebens. Auf die Jahrhunderte der deutschen Weltherrschaftspläne folgte 
nunmehr eine Zeit des leidenden Weltbürgerthums. Das Volk der Mitte 
empfing die Befehle aller Welt. Sämmtliche mächtige Fürsten des Welt- 
theils gehörten als Reichsstände oder als Friedensbürgen dem deutschen 
Reiche an und meisterten sein Leben. Die Nation aber lebte sich ein in 
die Fremdherrschaft, hing mit deutscher Treue an den Fahnen des Aus-
	        
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