Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

28 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
Beinen gleich dem Koloß von Rhodus stand er über den deutschen 
Landen und stemmte seine Füße auf die bedrohten Marken am Rhein 
und Memelstrom. 
Eine Macht in solcher Lage konnte nicht mehr in dem engen Ge- 
sichtskreise deutscher Territorialpolitik verharren; sie mußte versuchen ihre 
weithin zerstreuten Gebiete zu einer haltbaren Masse abzurunden, sie war 
gezwungen für das Reich zu handeln und zu schlagen, denn jeder Angriff 
der Fremden auf deutschen Boden schnitt ihr in ihr eignes Fleisch. Und 
dieser Staat, der nur deutsches Land beherrschte, stand doch der Reichs- 
gewalt in glücklicher Unabhängigkeit gegenüber. Jenen Reichsständen, 
deren Gebiete allesammt innerhalb der Reichsgrenzen lagen, war eine 
selbständige europäische Politik immerhin erschwert; andere Fürstenge- 
schlechter, die sich durch die Erwerbung ausländischer Kronen den hem- 
menden Fesseln der Reichsverfassung entzogen, gingen dem deutschen Leben 
verloren. Auch dem Hause Brandenburg sind oftmals lockende Rufe aus 
der Ferne erklungen: die Herrschaft in Schweden, in Polen, in den Nieder- 
landen, in England schien ihm offen zu stehen. Doch immer hat bald die 
Macht der Umstände bald die verständige Selbstbeschränkung des Fürsten- 
geschlechts diese gefährlichen Versuchungen abgewiesen. Eine segensreiche 
Fügung, die dem ernsten Sinne nicht als Zufall gelten darf, nöthigte die 
Hohenzollern in Deutschland zu verbleiben. Sie bedurften der fremden 
Kronen nicht; denn sie dankten ihre unabhängige Stellung in der Staaten- 
gesellschaft dem Besitze des Herzogthums Preußen, eines kerndeutschen 
Landes, das mit allen Wurzeln seines Lebens an dem Mutterlande hing 
und gleichwohl dem staatsrechtlichen Verbande des Reiches nicht angehörte. 
Also mit dem einen Fuß im Reiche, mit dem andern draußen stehend, ge- 
wann der preußische Staat das Recht, eine europäische Politik zu führen, 
die nur deutsche Ziele verfolgen konnte. Er durfte für Deutschland sorgen, 
ohne nach dem Reiche und seinen verrotteten Formen zu fragen. 
Dem Historiker ist nicht gestattet, nach der Weise der Naturforscher 
das Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die 
Geschichte. Die Gunst der Weltlage wird im Völkerleben wirksam erst 
durch den bewußten Menschenwillen, der sie zu benutzen weiß. Noch 
einmal stürzte der Staat der Hohenzollern von seiner kaum errungenen 
Machtstellung herab; er trieb dem Untergange entgegen, solange Johann 
Sigismund's Nachfolger Georg Wilhelm aus matten Augen schläfrig in 
die Welt blickte. Auch dieser neue Versuch deutscher Staatenbildung 
schien wieder in der Armseligkeit der Kleinstaaterei zu enden, wie vormals 
die unter ungleich günstigeren Anzeichen aufgestiegenen Mächte der Welfen, 
der Wettiner, der Pfälzer. Da trat als ein Fürst ohne Land, mit einem 
Stecken und einer Schleuder Kurfürst Friedrich Wilhelm ein in das 
verwüstete deutsche Leben, der größte deutsche Mann seiner Tage, und 
beseelte die schlummernden Kräfte seines Staates mit der Macht des
	        
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