Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

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424 I. 4. Der Befreiungkrieg. 
Eine Ostgrenze, welche den preußischen Staat zugleich militärisch gesichert 
und vor einer allzu starken Beimischung fremdartigen Volksthums be- 
wahrt hätte, ließ sich schlechterdings nicht finden. Man mußte den Muth 
haben, sich diese unbequeme Wahrheit einzugestehen, und man durfte die 
militärischen Bedenken dann den Erwägungen der nationalen Politik opfern, 
wenn die mittleren Weichsellande in Rußlands Hände kamen. Der rus- 
sische Staat war für Preußen unzweifelhaft ein weniger lästiger Nachbar 
als weiland die polnische Republik, er war nicht wie diese durch uralten 
Haß dem preußischen Volke verfeindet, nicht wie diese durch das Gebot 
der Selbsterhaltung gezwungen nach der Eroberung von Altpreußen zu 
trachten. Das weite Reich, das schon so viele andere Häfen besaß, konnte 
zur Noth ohne den Besitz der Weichselmündungen bestehen, wie Deutsch- 
land ohne das Rheindelta, Oesterreich ohne die Donaumündung bestehen 
kann. Kamen Warschau und Masovien unter Rußlands Herrschaft, so 
wurden voraussichtlich die Handelsinteressen von Altpreußen wie von 
Russisch-Polen schwer geschädigt; dennoch konnte die neue Ländervertheilung 
dauern, ein leidliches nachbarliches Verhältniß zwischen Preußen und Ruß- 
land war nicht unmöglich. Alle Mißstände an der Ostgrenze wurden 
reichlich aufgewogen, wenn Preußen auf deutschem Boden eine wohlge- 
sicherte Abrundung erlangte. 
In der That sah Hardenberg ein, daß irgend ein Zugeständniß an 
die russischen Wünsche unvermeidlich war, und beauftragte seinen Unter- 
händler nöthigenfalls das vormalige Neu-Ostpreußen dem Czaren preis- 
zugeben. Oberst Knesebeck aber dachte anders, ging eigenmächtig über seine 
Instructionen hinaus. Der gelehrte, vielerfahrene Offizier hatte einst die 
Ideale der Revolution mit Frohlocken begrüßt und war auch in späteren 
Jahren nicht ganz so hart reactionär gesinnt wie man ihm nachsagte; 
von den Grundgedanken der alten diplomatisch-militärischen Schule ist er 
gleichwohl niemals losgekommen. Er sah nach der Weise des achtzehn- 
ten Jahrhunderts in jeder Nachbarmacht schlechtweg den natürlichen Feind 
des Nachbars. Wie er im Felde die Landkarte unablässig durchforschte, 
von dem Besitze beherrschender Plateaus und Bergrücken entscheidende 
kriegerische Erfolge erwartete, so hatte er sich auch bei der Lampe ein Bild 
der europäischen Waage, eine neue allen Forderungen des Gleichgewichts 
entsprechende Karte von Europa niedergezeichnet und hielt daran mit doctri- 
närem Selbstgefühle fest. Ein Jahr darauf stellte er') für die neue Ge- 
bietsvertheilung drei leitende Gesichtspunkte auf: „daß der West sein Ueber- 
gewicht verliere, daß das Centrum wieder Gewicht bekomme und daß der 
Ost nicht in die Fehler des West verfalle.“ Darum muß der preußische 
Staat die Grenzen von 1805 wieder erhalten, sonst wird er durch Ruß- 
land flankirt und vom Ost abhäugig: „die Eigenschaften und Verbindungen 
  
*) Knesebeck's Denkschrift an Hardenberg, Freiburg, 7. Jannar 1814.
	        
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