Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

432 J. 4. Der Befreiungskrieg. 
Seit dem 17. März traten auch die breiten Massen des Volkes 
in das Heer ein. Durch den Wetteifer aller Stände wurde die größte 
kriegerische Leistung möglich, welche die Geschichte von gesitteten Nationen 
kennt. Dies verarmte kleine Volk verstärkte die 46,000 Mann der alten 
Linienarmee durch 95,000 Rekruten und stellte außerdem über 10,000 frei— 
willige Jäger, sowie 120,000 Mann Landwehr, zusammen 271,000 Mann, 
einen Soldaten auf siebzehn Einwohner, unvergleichlich mehr, als Frank- 
reich einst unter dem Drucke der Schreckensherrschaft aufgeboten hatte — 
das Alles noch im Verlaufe des Sommers, ungerechnet die starken Nach- 
schübe, welche späterhin zum Heere abgingen. Natürlich, daß die ent- 
lassenen Offiziere sich sofort herbeidrängten, um die Ehre ihrer alten 
Fahnen wiederherzustellen. Sobald General Oppen auf seinem märki- 
schen Landgute von dem Anrücken des vaterländischen Heeres hörte, nahm 
er seinen alten Säbel von der Wand und ritt, wie ein Rittersmann in 
den Tagen der Wendenkriege, mit einem Knechte spornstreichs hinüber 
zu seinem alten Waffengefährten Bülow. Der stellt den herculischen 
Mann mit den blitzenden Augen lachend seinen Offizieren vor: „Das 
ist Einer, der das Einhauen versteht“ — überträgt ihm den Befehl über 
die Reiterei, und einmal bei der Arbeit, bleibt der Wildfang fröhlich dabei, 
ein unersättlicher Streiter, bis zum Einzuge in Paris. 
Neben den alten Soldaten empfand die gebildete Jugend den Ernst 
der Zeit am lebhaftesten; in ihr glühte die schwärmerische Sehnsucht nach 
dem freien und einigen deutschen Vaterlande. Kein Student, der irgend 
die Waffen schwingen konnte, blieb daheim; vom Katheder hinweg führte 
Professor Steffens nach herzlicher Ansprache seine gesammte Hörerschaft 
zum Werbeplatze der freiwilligen Jäger. Der König rief auch seine ver- 
lorenen alten Provinzen zu den Fahnen: „Auch Ihr seid von dem Augen- 
blicke, wo mein treues Volk die Waffen ergriff, nicht mehr an den 
erzwungenen Eid gebunden.“ Da aber eine Massenerhebung in den un- 
glücklichen Landen vorerst noch ganz unmöglich war, so eilten mindestens 
die Ostfriesen und Markaner von der Göttinger Universität zu den preu- 
ßischen Regimentern, desgleichen die gesammte Studentenschaft aus dem 
treuen Halle, das unter westphälischer Herrschaft die Erinnerungen an den 
alten Dessauer und die gute preußische Zeit nicht vergessen hatte. Derselbe 
Geist lebte in den Schulen. Aus Berlin allein stellten sich 370 Gymna- 
siasten. Mancher schwächliche Junge irrte betrübt, immer wieder abgewiesen, 
von einem Regimente zum andern, und glücklich wer, wie der junge Vogel 
von Falkenstein, zuletzt doch noch von einem nachsichtigen Commandeur 
angenommen wurde. Die Beamten meldeten sich so zahlreich zum Waffen- 
dienste, daß der König durch ein Verbot den Gerichten und Regierungen 
die unentbehrlichen Arbeitskräfte sichern mußte; in Pommern waren die 
königlichen Behörden während des Sommers nahezu verschwunden, jeder 
Kreis und jedes Dorf regierte sich selber, wohl oder übel.
	        
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