Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Opfermuth des Volkes. 433 
Aber auch der geringe Mann hatte in Noth und Plagen die Liebe 
zum Vaterlande wiedergefunden: stürmisch, wie nie mehr seit den Zeiten 
der Religionskriege, war die Seele des Volkes bewegt von den großen 
Leidenschaften des öffentlichen Lebens. Der Bauer verließ den Hof, der 
Handwerker die Werkstatt, rasch entschlossen, als verstünde sich's von selber: 
die Zeit war erfüllet, es mußte sein. War doch auch der König mit allen 
seinen Prinzen in's Feldlager gegangen. In tausend rührenden Zügen 
bekundete sich die Treue der kleinen Leute. Arme Bergknappen in Schlesien 
arbeiteten wochenlang unentgeltlich, um mit dem Lohne einige Kameraden 
für das Heer auszurüsten; ein pommerscher Schäfer verkaufte die kleine 
Herde, seine einzige Habe, und ging dann wohlbewaffnet zu seinem Regi— 
mente. Mit Verwunderung sah das alte Geschlecht alle jene herzerschüt— 
ternden Auftritte, woran der Ernst der allgemeinen Wehrpflicht uns Nach— 
lebende längst gewöhnt hat: hunderte von Brautpaaren traten vor den 
Altar und schlossen den Bund für das Leben, einen Augenblick bevor der 
junge Gatte in Kampf und Tod hinauszog. Nur die Polen in West— 
preußen und Oberschlesien theilten die Hingebung der Deutschen nicht; 
auch in einzelnen Städten, die bisher vom Heerdienste frei gewesen, stießen 
die neuen Gesetze auf Widerstand. Das deutsche und litthauische Landvolk 
der alten Provinzen dagegen war seit dem gestrengen Friedrich Wilhelm J. 
mit der Wehrpflicht vertraut. Zugleich wurden überall öffentliche Samm— 
lungen veranstaltet, wie sie bisher nur für wohlthätige Zwecke üblich waren: 
dies arme Viertel der deutschen Nation brachte mit der Blüthe seiner 
männlichen Jugend auch die letzten kargen Reste seines Wohlstandes zum 
Opfer für die Wiederauferstehung des Vaterlandes. Von baarem Gelde 
war wenig vorhanden, aber was sich noch auftreiben ließ von altem 
Schmuck und Geschmeide ging dahin. In manchen Strichen der alten 
Provinzen galt es nach dem Kriege als eine Schande, wenn ein Haushalt 
noch Silberzeug besaß. Kleine Leute trugen ihre Trauringe in die Münze, 
empfingen eiserne zurück mit der Inschrift: „Gold für Eisen;" manches 
arme Mädchen gab ihr reiches Lockenhaar als Opfer. 
Eine wunderbare, andächtige Stille lag über dem in allen seinen 
Tiefen erregten Volke. Den Lärm der Presse und der Vereine kannte 
die Zeit noch nicht; aber auch im vertrauten Kreise wurde selten eine 
prahlerische Rede laut. In den Tagen ihres häuslichen Stilllebens hatten 
die Deutschen gern überschwänglichen Ausdruck an nichtigen Gegenstand 
verschwendet; jetzt ward das Leben selber reich und ernst, Jeder empfand 
die Größe der That, die Armuth des Wortes. Jeder fühlte, wie Niebuhr 
gestand, still „die Seligkeit, mit seinem ganzen Volke, den Gelehrten und 
den Einfältigen, dasselbe Gefühl zu theilen“, und Allen ward „liebend, 
friedlich und stark zu Muthe". Recht nach dem Herzen seines Volkes 
hatte Friedrich Wilheln's frommer Sinn den Wahlspruch „mit Gott für 
König und Vaterland“ der Landwehr gegeben und angeordnet, daß die 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 28
	        
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