440 I. 4. Der Befreiungskrieg.
diese Schritte konnten zur Noth noch vor dem französischen Gesandten
entschuldigt werden. Sie erregten viel Unwillen in dem treuen Volke —
denn wozu der Zwang, da doch freiwillig so viel mehr geleistet wurde
als der König verlangte? — und doch waren sie unerläßlich. Der
Staat mußte für die Linie und die Landwehr mit Sicherheit auf alle
Wehrfähigen zählen können, auch in den Bezirken, welche geringeren Eifer
zeigten.
Dann erst, als die diplomatischen Verhandlungen abgebrochen, die
Cadres der Linie schon formirt und nahezu gefüllt waren, erschien das
Landwehrgesetz, das einer offenen Kriegserklärung gleich kam. Scharn-
horst's Landwehrplan war von Haus aus in einem größeren Sinne ge-
dacht als die Entwürfe des Königsberger Landtags. Auch er rechnete,
wie die Ostpreußen, zunächst auf die Thätigkeit der Kreis= und Provinzial-
stände, wendete die Grundsätze der neuen Selbstverwaltung auf das Heer-
wesen an. In jedem Kreise traten zwei ritterschaftliche, ein städtischer
und ein bäuerlicher Deputirter zu einem Ausschusse zusammen um aus
der Gesammtheit der Männer zwischen siebzehn und vierzig Jahren, die
nicht in der Linie dienten, die Landwehrmänner auszulosen; zwei General-
commissare, ein königlicher und ein ständischer, leiteten die Aushebung und
Ausrüstung in jeder Provinz. Die Mannschaften trugen an Kragen und
Mütze die Farben ihrer Provinz, die Offiziere die Uniform der Landstände.
Die Formation der Bataillone und Compagnien folgte so weit als mög-
lich den Grenzen der Kreise und Gemeinden, dergestalt daß der Nachbar
in der Regel mit dem Nachbarn in einem Gliede stand; die Offiziere bis
zum Hauptmann aufwärts wurden gewählt, die Stabsoffiziere, zum Theil
auf Vorschlag der Stände, vom Könige ernannt. Gleichwohl war diese
armée bourgeoise, wie Napoleon sie höhnend nannte, keineswegs bloß
ein für die Vertheidigung der nächsten Heimath bestimmtes Provinzial-
heer. Vielmehr wurde die Landwehr auf die Kriegsartikel vereidigt und
zu Allem verpflichtet, was dem stehenden Heere oblag; sie war uniformirt
— freilich sehr einfach, mit der Dienstmütze und der Litewka, die sich aus
dem blauen Sonntagsrocke der Bauern leicht zurechtschneiden ließ — und
der König behielt sich vor, die einzelnen Wehrmänner oder auch ganze
Bataillone zur Feldarmee heranzurufen. Die gesammte männliche Be-
völkerung bis zum vierzigsten Jahre sollte also, wenn es noth that, zur
Verstärkung der offensiven Streitkräfte des Staates dienen; die Ostpreußen
mußten auf Befehl des Königs ihren enger gedachten Entwurf abändern,
ihre Landwehr ebenfalls zum Dienste außerhalb der Provinz verpflichten.
Die Mehrzahl der Mannschaften bestand aus Bauern und kleinen Leuten,
zumal in Schlesien, wo fast alle gebildeten jungen Leute bei den freiwilligen
Jägern eingetreten waren. Die Offiziere waren zumeist Gutsbesitzer, zum
Theil auch Beamte oder junge Freiwillige, nur wenige darunter militärisch
geschult. Für die Ausrüstung konnte der erschöpfte Staat nur kümmerlich