Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Der Sturm auf Leipzig. Die Opfer. 509 
als die Elsterbrücke an der Frankfurter Straße in die Luft gesprengt und 
damit den Wenigen, die sich vielleicht noch retten konnten, der letzte Aus- 
weg versperrt wurde. Ein ganzes Heer, an hunderttausend Mann, lag 
todt oder verwundet. Was vermochte die Kunst der Aerzte, was die 
menschenfreundliche Aufopferung des edlen Ostfriesen Reil gegen solches 
Uebermaß des Jammers? Das Medicinalwesen der Heere war überall 
noch nicht weit über die Weisheit der fridericianischen Feldscheerer hinaus- 
gekommen, und über der wackeren, gutherzigen Leipziger Bürgerschaft lag 
noch der Schlummergeist des alten kursächsischen Lebens, sie verstand nicht 
rechtzeitig Hand anzulegen. Tagelang blieben die Leichen der preußischen 
Krieger im Hofe der Bürgerschule am Wall unbeerdigt, von Raben und 
Hunden benagt; in den Concertsälen des Gewandhauses lagen Todte, 
Wunde, Kranke auf faulem Stroh beisammen, ein verpestender Brodem 
erfüllte den scheußlichen Pferch, ein Strom von zähem Koth sickerte lang- 
sam die Treppe hinab. Wenn die Leichenwagen durch die Straßen 
fuhren, dann geschah es wohl, daß ein Todter der Kürze halber aus dem 
dritten Stockwerk hinabgeworfen wurde, oder die begleitenden Soldaten 
bemerkten unter den starren Körpern auf dem Wagen einen, der sich noch 
regte, und machten mit einem Kolbenschlage mitleidig dem Gräuel ein 
Ende. Draußen auf dem Schlachtfelde hielten die Aasgeier ihren Schmaus; 
es währte lange bis die entflohenen Bauern in die verwüsteten Dörfer 
heimkehrten und die Leichen in großen Massengräbern verscharrten. Unter 
solchem Elend nahm dies Zeitalter der Kriege vom deutschen Boden Ab- 
schied, die fürchterliche Zeit, von der Arndt sagte: „dahin wollte es fast 
mit uns kommen, daß es endlich nur zwei Menschenarten gab, Menschen- 
fresser und Gefressenel“ Dem Geschlechte, das Solches gesehen, blieb für 
immer ein unauslöschlicher Abscheu vor dem Kriege, ein tiefes, für minder 
heimgesuchte Zeiten fast unverständliches Friedensbedürfniß. 
Am 24. October besuchte König Friedrich Wilhelm seine Hauptstadt. 
Es drängte ihn am Grabe seiner Gemahlin zu beten, denn überall auf 
seiner wilden Kriegsfahrt war ihr Bild ihm zur Seite gewesen, und auch 
unter den Truppen hieß es immer wieder: warum durfte die Königin 
das nicht mehr erleben? Dann erschien er im Theater; das Heil Dir 
im Siegerkranz brauste durch den Saal, diesmal mit besserem Rechte als 
einst da das dünkelhafte Geschlecht der neunziger Jahre sich zuerst an den 
prächtigen Klängen weidete. Vor sieben Jahren am nämlichen Tage war 
Napoleon durch das Brandenburger Thor eingeritten, und welch ein Wandel 
seitdem! Wie hatte sich doch dieser verstümmelte Staat mit seinen fünf 
Millionen Menschen wieder aufgeschwungen auf die Höhen der Geschichte! 
Mochten die Männer der Kriegspartei von 1811 geirrt haben in der 
Wahl des Augenblicks, zu groß hatten sie nicht gedacht von ihrem Volke. 
Jetzt galt er wieder, der alte Wahlspruch Nec soli cedit! In jenen 
Tagen schrieb eine englische Zeitung: „Wer gab Deutschland das erste
	        
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