Kriegsminister von Boyen. 591
Aus diesen volksthümlichen Vorstellungen und dem unendlichen Friedens—
bedürfniß der Zeit entwickelte sich nun die Ansicht, die technische Ausbil-
dung des Soldaten sei leere Spielerei, ein Milizheer von möglichst kurzer
Dienstzeit genüge am besten den Anforderungen des Krieges wie des
Friedens. Bis in die höchsten Schichten des Beamtenthums hinauf fand
diese Meinung Anklang; Präsident Schön war ihr eifriger Anhänger.
Der neue Kriegsminister stand vor einer überaus schwierigen Auf-
gabe. Er hatte schon vor dem Kriege von 1806 den Gedanken der all-
gemeinen Wehrpflicht vertheidigt und wollte jetzt diese große Errungen-
schaft bewahren ohne doch in die dilettantischen Träume vom Milizwesen
zu verfallen, dem Staate ein starkes, den größeren Nachbarmächten ge-
wachsenes Heer sichern ohne doch die erschöpften Finanzen völlig zu zer-
stören. Während der zwei letzten Jahrzehnte war eine für Preußen sehr
ungünstige Verschiebung der militärischen Machtverhältnisse eingetreten.
Das fridericianische Heer war das stärkste Europas gewesen, Dank der
Cantonpflicht Friedrich Wilhelm's I. Seitdem aber hatten alle Nach-
barstaaten, jeder in seiner Weise, das preußische System der Zwangs-
aushebung nachgeahmt. Die natürliche Ueberlegenheit der Kopfzahl trat
in Kraft; die kleinste der Großmächte konnte nur noch hoffen nicht allzu
weit hinter den stärkeren Nachbarn zurückzubleiben, sie mußte versuchen,
durch die höchste Anspannung der sittlichen Kräfte des Heeres die Un-
gunst der Zahlen einigermaßen auszugleichen. Boyen wußte wohl, mit
wie unverhältnißmäßigen Verlusten die Landwehr alle ihre Siege erkauft,
und wie mangelhaft ihre Manneszucht, namentlich in den furchtbaren
Prüfungen des Winterfeldzugs, sich gezeigt hatte. Auf eine so massenhafte
Verwendung der Landwehren im freien Felde war Scharnhorst selber An-
fangs schwerlich gefaßt gewesen. Erst die Noth, erst das Mißlingen des
Frühjahrsfeldzuges und wahrscheinlich Gneisenau's Rath hatten den König
während des Waffenstillstandes bewogen, diese Truppen mit ihrem buntge-
mischten Offizierscorps kurzweg in die Feldarmee einzureihen. Nur durch
ganz außerordentliche Ereignisse, durch den langjährigen harten Druck der
Fremdherrschaft war jene wilde Gluth des Nationalhasses und der patrioti-
schen Leidenschaft möglich geworden, welche die ungeschulten Schaaren der
Landwehr zu so wunderbaren Erfolgen befähigt hatte. Der Kriegsminister
kannte die Welt zu gut um die Wiederkehr der gleichen Opferfreudigkeit
auch in der Zukunft zu erwarten, wenn etwa ein den Massen der Nation
unverständlicher Krieg dem Könige aufgezwungen würde. Und doch war
Preußen durch seine centrale Lage wie durch die stolzen fridericianischen
Traditionen seines Heeres in jedem Krieg immer zur Offensive genöthigt:
der Staat brauchte eine starke Feldarmee, er mußte seine Landwehr zum
Dienste außerhalb der Landesgrenzen verpflichten um das feindliche Gebiet
sogleich mit gewaltigen Massen überfluthen zu können.
Aus Alledem ergab sich die Nothwendigkeit, die Landwehr eng an das