Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Kriegsminister von Boyen. 591 
Aus diesen volksthümlichen Vorstellungen und dem unendlichen Friedens— 
bedürfniß der Zeit entwickelte sich nun die Ansicht, die technische Ausbil- 
dung des Soldaten sei leere Spielerei, ein Milizheer von möglichst kurzer 
Dienstzeit genüge am besten den Anforderungen des Krieges wie des 
Friedens. Bis in die höchsten Schichten des Beamtenthums hinauf fand 
diese Meinung Anklang; Präsident Schön war ihr eifriger Anhänger. 
Der neue Kriegsminister stand vor einer überaus schwierigen Auf- 
gabe. Er hatte schon vor dem Kriege von 1806 den Gedanken der all- 
gemeinen Wehrpflicht vertheidigt und wollte jetzt diese große Errungen- 
schaft bewahren ohne doch in die dilettantischen Träume vom Milizwesen 
zu verfallen, dem Staate ein starkes, den größeren Nachbarmächten ge- 
wachsenes Heer sichern ohne doch die erschöpften Finanzen völlig zu zer- 
stören. Während der zwei letzten Jahrzehnte war eine für Preußen sehr 
ungünstige Verschiebung der militärischen Machtverhältnisse eingetreten. 
Das fridericianische Heer war das stärkste Europas gewesen, Dank der 
Cantonpflicht Friedrich Wilhelm's I. Seitdem aber hatten alle Nach- 
barstaaten, jeder in seiner Weise, das preußische System der Zwangs- 
aushebung nachgeahmt. Die natürliche Ueberlegenheit der Kopfzahl trat 
in Kraft; die kleinste der Großmächte konnte nur noch hoffen nicht allzu 
weit hinter den stärkeren Nachbarn zurückzubleiben, sie mußte versuchen, 
durch die höchste Anspannung der sittlichen Kräfte des Heeres die Un- 
gunst der Zahlen einigermaßen auszugleichen. Boyen wußte wohl, mit 
wie unverhältnißmäßigen Verlusten die Landwehr alle ihre Siege erkauft, 
und wie mangelhaft ihre Manneszucht, namentlich in den furchtbaren 
Prüfungen des Winterfeldzugs, sich gezeigt hatte. Auf eine so massenhafte 
Verwendung der Landwehren im freien Felde war Scharnhorst selber An- 
fangs schwerlich gefaßt gewesen. Erst die Noth, erst das Mißlingen des 
Frühjahrsfeldzuges und wahrscheinlich Gneisenau's Rath hatten den König 
während des Waffenstillstandes bewogen, diese Truppen mit ihrem buntge- 
mischten Offizierscorps kurzweg in die Feldarmee einzureihen. Nur durch 
ganz außerordentliche Ereignisse, durch den langjährigen harten Druck der 
Fremdherrschaft war jene wilde Gluth des Nationalhasses und der patrioti- 
schen Leidenschaft möglich geworden, welche die ungeschulten Schaaren der 
Landwehr zu so wunderbaren Erfolgen befähigt hatte. Der Kriegsminister 
kannte die Welt zu gut um die Wiederkehr der gleichen Opferfreudigkeit 
auch in der Zukunft zu erwarten, wenn etwa ein den Massen der Nation 
unverständlicher Krieg dem Könige aufgezwungen würde. Und doch war 
Preußen durch seine centrale Lage wie durch die stolzen fridericianischen 
Traditionen seines Heeres in jedem Krieg immer zur Offensive genöthigt: 
der Staat brauchte eine starke Feldarmee, er mußte seine Landwehr zum 
Dienste außerhalb der Landesgrenzen verpflichten um das feindliche Gebiet 
sogleich mit gewaltigen Massen überfluthen zu können. 
Aus Alledem ergab sich die Nothwendigkeit, die Landwehr eng an das
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.