604 II. 1. Der Wiener Congreß.
und Supplicanten, unterthänigst angestaunt und unterthänigst ausgebeutelt
von den gemüthlichen Wienern, die sich an den hohen Herrschaften gar
nicht satt sehen konnten. Die Erbsünde des gemeinen Durchschnittsschlages
der Diplomaten, die Vermischung der ernsten Staatsgeschäfte mit der
Tändelei, dem Ränkespiel und dem Klatsch des Salons, gedieh zur üppig-
sten Blüthe. Häßlicher als die unvermeidliche Sittenlosigkeit dieses großen
Fürstenbacchanals erschien die lächelnde Verlogenheit, die sich jetzt zur
Virtuosität ausbildete; wer hier etwas gelten wollte, mußte sich auf die
Kunst verstehen Morgens ein geheimes Kriegsbündniß gegen seine täglichen
Tischgenossen abzuschließen und Nachmittags mit den nämlichen Freunden
wieder in ungetrübter Zärtlichkeit zu verkehren.
Ueber dem ganzen glitzernden und blitzenden Treiben lag der Hauch
jener trivialen Gedankenlosigkeit, welche das Habsburgerregiment auf dem
Wiener Boden eingebürgert hatte. Die Zeit war dahin, da das wackere
Bürgerthum der ehrenfesten deutschen Landstadt Wien sich seine herrlichen
Kirchen errichtete. Was hatten diese langen drei Jahrhunderte, seit die
Donaustadt der Mittelpunkt eines großen Reiches geworden, an Schönem
gebaut und gebildet? Nichts, gar nichts, kaum daß der Kuppelbau der
Karlskirche und das Belvedereschloß mindestens einige Eigenthümlichkeit
zeigten. Sonst überall, an dem häßlichen Häuserhaufen der Burg wie
an den Palästen des reichen Adels, dieselbe abschreckende Geschmacklosig-
keit. Einige Kunstsammlungen waren wohl vorhanden, doch Niemand
beachtete sie; die Schätze der Ambraser Sammlung lagen vergessen, Karl
August von Weimar entdeckte sie erst jetzt von Neuem, denn der geistvolle
Fürst hielt es in der schalen Nichtigkeit dieser geselligen Freuden nicht
aus und durchstreifte die Stadt nach feineren Genüssen suchend. Es
war noch ganz das von Schiller verspottete alte Wien, die Stadt der
Phäaken mit ihrem ewigen Sonntag und dem immer sich drehenden Brat-
spieß. Keine Spur von wissenschaftlicher Thätigkeit: wer hatte von der
altehrwürdigen Universität je etwas gehört, außer daß sie ein wohleinge-
richtetes Hospital mit einigen trefflichen Aerzten besaß? Dazu der dumpfe
Druck der geheimen Polizei und ein allgemeiner politischer Stumpfsinn.
Kein Mensch in diesem lustigen Völkchen bekümmerte sich um die politische
Thätigkeit des Congresses; der Oesterreichische Beobachter brachte in neun
Monaten einen einzigen Artikel über die Geschäfte der erlauchten Ver-
sammlung, und Niemand fand das sonderbar. Allein die Blüthe des
Theaters ließ errathen, daß hier noch ein reichbegabter Menschenschlag
lebte und das verfallene geistige Leben dereinst doch wieder erwachen
konnte. Die Bildung in den Kreisen der österreichischen Magnatenge-
schlechter war noch ganz französisch; nur mit den Herren aus Preußen
sprach man deutsch um dem nordischen Teutonenthum doch eine Liebens-
würdigkeit zu erweisen. Der Esprit der alten bourbonischen Aristokratie
fehlte freilich ganz; auch die großen Judenhäuser, welche jetzt, Dank der