Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

608 II. 1. Der Wiener Congreß. 
Widerstand der Höfe, wo und wie sie sich auch zeigte: in solchen Formen 
etwa stellte sich Metternich das neue von Oesterreich geleitete Europa vor. 
Es war ein System der Seelenangst, die Ausgeburt eines ideenlosen 
Kopfes, der von den treibenden Kräften der Geschichte nicht das Mindeste 
ahnte; aber diese Politik entsprach dem augenblicklichen Bedürfniß der 
österreichischen Monarchie, sie entsprach der allgemeinen Schlummersucht 
der ermatteten Welt und sie ging an's Werk mit gewiegter Schlauheit, 
mit gründlicher Kenntniß aller gemeinen Triebe der menschlichen Natur, 
sie verstand sich meisterhaft auf jene kleinen Künste gemüthlich lächelnder 
Verlogenheit, worin von Alters her die Stärke der habsburgischen Staats- 
kunst lag. 
Unter den fremden Gästen erregten die Engländer das größte Auf- 
sehen. Eine solche Toilette, wie sie die colossale Lady Castlereagh trug, 
so altmodisch, grell und abgeschmackt, war den glatten Continentalen lange 
nicht vorgekommen. Die seit Jahren von dem Festlande abgesperrten 
Insulaner erschienen wie Gestalten aus einer anderen Welt; überall 
reizten sie den Spott durch die wunderlichen Schrullen ihres Spleens, den 
Widerwillen durch ihren protzenhaften Uebermuth. Die gesammte vornehme 
Welt lachte schadenfroh, als die Wiener Fiakerkutscher einmal das allge- 
meine Urtheil über die britische Bescheidenheit auf dem Rücken des Ge- 
nerals Charles Stewart urkundlich beglaubigten. Erst gegen das Ende 
des Congresses traf Wellington ein, endlich ein würdiger Vertreter der 
großen Seemacht, aber auch er verstand von den deutschen Dingen nicht 
mehr als seine armseligen Genossen Castlereagh und Cathcart, hielt sich 
wie diese an die Rathschläge der Oesterreicher und der Hannoveraner. 
Wie anders wußte der Czar sich zur Geltung zu bringen. Er 
spielte noch gern den schönen jungen Mann, man sah ihn zuweilen Arm 
in Arm mit den durchlauchtigen jungen Cavalieren von der böhmischen 
oder der ungarischen Nobelgarde. Dabei bewahrte er doch die salbungs- 
volle Weihe des Weltheilands und Weltbefreiers; noch nie hatte er so 
beredt und sanft über die Beglückung des Menschengeschlechts gesprochen. 
In einer Instruction, die er von Wien aus an alle seine Gesandten 
schickte, schlug er einen Ton an, der an die Sprache des Rheinischen 
Mercurs erinnerte: der Sturz Napoleon's, sagte er geradezu, sei bewirkt 
durch den Sieg der öffentlichen Meinung über die Ansichten der meisten 
Cabinette; für die Zukunft müsse jedes Volk in den Stand gesetzt werden 
selber seine Unabhängigkeit zu vertheidigen; darum keine Zerstückelung 
der Länder mehr und Einführung des Repräsentativsystems in allen 
Staaten! Und abermals war Alexander in der glücklichen Lage, daß seine 
weltbefreienden Gedanken mit seinem persönlichen Interesse genau zusam- 
mentrafen. Unterwegs hatte er einige Tage in Pulawy, dem prächtigen 
Schlosse Czartoryski's verweilt und in vollen Zügen die berauschenden 
Huldigungen der schönen polnischen Damen genossen; nun brachte er 
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