620 II. 1. Der Wiener Congreß.
sondern er hat eine Mehrzahl verschiedener Geschäfte zu erledigen, die
auch auf verschiedene Weise behandelt werden müssen: Gebietsfragen, be-
sondere Angelegenheiten und solche Einrichtungen, die für den ganzen
Welttheil wichtig sind. Von den Gebietsfragen bleibt die polnische, nach
den Verträgen, allein den drei Theilungsmächten vorbehalten, doch
soll England eine allen Theilen willkommene Vermittlung übernehmen.
Die allgemeinen Grundsätze über die Vertheilung der deutschen Gebiete
werden, gemäß dem Pariser Frieden, von den vier Mächten allein auf-
gestellt; Frankreich, Holland, Dänemark und die Schweiz sind fern zu
halten weil sie nicht von dem europäischen Standpunkte ausgehen, auch
Baiern und Württemberg dürfen erst am Schlusse der Berathungen zu-
gezogen werden. Die italienische Gebietsvertheilung unterliegt den Bera-
thungen zwischen Oesterreich, Piemont, dem Papste, den Bourbonen von
Sicilien und ihrem Schirmherrn England; Murat bleibt ausgeschlossen.
Unter den „besonderen Angelegenheiten“ steht die deutsche Verfassungs-
frage obenan; sie wird allein durch die deutschen Staaten entschieden, mit
Zuziehung von Dänemark — wegen Holstein —, den Niederlanden, die
ganz oder theilweise beitreten müssen, und der Schweiz, denn ein ewiges
Bündniß zwischen dem Deutschen Bunde und der Eidgenossenschaft „wäre
im höchsten Grade wünschenswerth“. So bleiben für die Berathungen
aller Mächte nur übrig einige gemeinsame Angelegenheiten, nämlich: die
Verfassung der Schweiz, da dort ein Bürgerkrieg droht; die neapolita-
nische Sache: — der nicht von allen Mächten anerkannte Gewalthaber
dort muß beseitigt werden; die Entfernung Napoleon's aus Elba: — dieser
Feuerbrand darf nicht in so drohender Nähe bleiben; endlich die Abschaf-
fung des Sklavenhandels, die Regelung der internationalen Flußschifffahrt
und die Rangordnung der Diplomaten. Diese allgemein-europäischen An-
gelegenheiten werden von einem leitenden Comité bearbeitet und dann dem
gesammten Congresse vorgelegt.
Die preußischen Vorschläge fanden sofort lebhaften Widerspruch, ob-
gleich sie sich strng auf dem unzweifelhaften Rechtsboden des Pariser Ver-
trages hielten. Talleyrand hatte längst dafür gesorgt, daß man in der
Hofburg von seiner geheimen Instruction Kunde erhielt, und die Oester-
reicher erkannten dankbar, welche löblichen Grundsätze der Tuilerienhof hin-
sichtlich der sächsischen und der polnischen Frage hegte. Sie fanden es
jetzt höchst unbillig, Frankreich von irgend einem wichtigen Theile der Ver-
handlungen auszuschließen. Lord Castlereagh stimmte ihnen zu; denn
das Verhältniß zwischen den Höfen von Paris und London war inzwischen
immer freundlicher geworden, und soeben erst, auf der Reise nach Wien,
hatte sich Castlereagh nochmals in den Tuilerien aufgehalten. König Lud-
wig schätzte die Welfen sogar höher als die Lothringer, da diese sich doch
durch das Ehebündniß mit dem Corsen eines unverzeihlichen Frevels gegen
die Legitimität schuldig gemacht hatten. Nur Rußland hielt zu Preußen.