Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

676 II. 1. Der Wiener Congreß. 
kleinen Staaten vermochte sich darüber zu täuschen, daß die neue Gestaltung 
des preußischen Gebietes keine Dauer versprach, daß eine Großmacht in so 
unnatürlicher Lage nicht verharren durfte. Die Hälfte Deutschlands ge— 
horchte dem preußischen Scepter; war in dieser erst der deutsche Einheits— 
staat fest und sicher begründet, so mußte früher oder später die Stunde 
kommen, da das Schwert Friedrich's wieder aus der Scheide fuhr um 
auch die andere Hälfte, die noch in allen Gliedern die Nachwirkung der 
zweihundertjährigen Fremdherrschaft verspürte, zum Vaterlande zurück— 
zuführen. 
  
Als ein Menschenalter später die Vertreter der Nation ohne die 
Mitwirkung der Fürsten über den Neubau des deutschen Gesammtstaates 
beriethen, vergeudeten sie die günstige Zeit mit Berathungen über die 
Grundrechte des Volks. Derselbe dunkle Drang der Selbstsucht beherrschte 
die Diplomaten, die in Wien ohne Zuziehung der Nation über Deutsch— 
lands Zukunft verhandelten; das deutsche Verfassungswerk gerieth nach 
kurzem Anlauf in's Stocken, der Streit über die dynastischen Interessen 
des Hauses Wettin nahm Monate lang alle Kräfte des Congresses in An— 
spruch, und erst gegen das Ende des großen Fürstentages, als die Dinge 
bereits völlig aussichtslos lagen, ward in übereilter Hast die deutsche 
Bundesacte beendigt. Sehr günstig hatten die Aussichten freilich nie ge— 
standen. Einem Lande, dessen Grenzen Niemand kannte, dem unbestimm— 
ten Begriffe „Deutschland“ eine feste politische Form zu geben war an 
sich eine unmögliche Aufgabe. Ein erbarmungsloser Druck der Noth, wie 
er einst die Staaten Nordamerikas gezwungen hatte widerwillig auf ihre 
Souveränität zu verzichten, ward in jenem Augenblicke nicht fühlbar, da 
alle Welt auf eine lange Zeit friedlichen Behagens hoffte. So zeigte sich 
denn hart und nackt das politische Naturgesetz, das jeden Staat treibt, 
sein Ich, seine Unabhängigkeit bis auf's Aeußerste zu vertheidigen. Ehr— 
furcht vor dem großen Vaterlande, Dankbarkeit gegen seine Befreier, 
Scham über die eigenen Frevel ließ sich von den Sklaven Napoleon's 
nicht erwarten. 
Auch eine durchgebildete öffentliche Meinung, ein leidenschaftlicher 
Volkswille, stark genug die Widerstrebenden fortzureißen bestand noch 
nirgends. Was diese Generation an schöpferischem, politischem Vermögen 
besaß, war in dem ungeheuren Ringen um die Befreiung des Vaterlandes 
darauf gegangen. Wohl flogen die Hoffnungen der Patrioten hoch; wir 
warten, sagte Arndt, einer neuen Herrlichkeit wie seit Jahrhunderten nicht 
gewesen ist! Die constitutionellen Ideen der Revolution hatten in der 
Stille auf deutschem Boden überall Wurzel geschlagen, „Verfassung“ 
und „Repräsentativsystem“ galten bereits als gleichbedeutende Worte.
	        
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