Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Stimmung in Frankreich. 717 
dem prahlerischen Schauspiele bei; aber Marie Luise kehrte nicht wieder 
in die Tuilerien zurück: die Treue der Oesterreicherin gehörte nur dem 
Glückskinde, nicht dem Gatten. 
Auf Schritt und Tritt erfuhr der Imperator, daß er nur noch der 
Bandenführer einer großen Soldatenmeuterei, nicht mehr das allgefürch— 
tete Staatsoberhaupt war; Scham und Zorn übermannten seine stolze 
Seele, wenn er sich am Fenster zeigen mußte um die Huldigungen der 
Föderirten aus den Arbeitervierteln entgegenzunehmen. Auf Augen— 
blicke fragte er sich wohl, ob er nicht kurzab die rothe Mütze aufsetzen, 
die Führung der radicalen Parteien übernehmen, die Nationalgarde der 
Pariser Bourgeoisie auflösen und an ihrer Statt ein Volksheer aus den 
föderirten Arbeitermassen bilden solle. Aber der Abscheu wider die Jaco— 
biner überwog. Napoleon konnte nicht lassen von den alten despotischen 
Gewohnheiten, verfolgte seine Gegner durch Proscriptionslisten, errichtete 
wieder eine zweifache geheime Polizei, deren Agenten einander wechsel— 
seitig bewachten. Und trotz der Zusatzacte, trotz seiner liberalen Be— 
theuerungen, trotz seiner ablehnenden Haltung gegen die Jacobiner erwarb 
er sich doch nicht das Vertrauen der Bourgeoisie. Wohl schloß sich der 
leichtgläubige Doctrinär Benjamin Constant dem bekehrten Despoten an, 
und das Organ der Constitutionellen, Dunoyer's Censeur pries die Zu— 
satzacte als die Vollendung der französischen Freiheit — eine wundersame 
Selbsttäuschung, die nachher durch Jahrzehnte das Schlagwort der Oppo— 
sition geblieben ist. Aber die Masse der Constitutionellen verharrte in 
ihrem Mißtrauen; sie hoffte insgeheim auf den schlauen Ludwig Philipp 
von Orleans, der schon seit Langem stillgeschäftig nach der Bürgerkrone 
Frankreichs seine Netze auswarf. Als die Abgeordneten im Juni zusam— 
mentraten, wurde ein Gegner Napoleon's, der Mann des Convents Lan— 
juinais zum Präsidenten erwählt; mit rücksichtsloser Heftigkeit traten die 
radicalen Parteiführer dem Kaiser entgegen. 
Das Aergste blieb doch, daß Napoleon, um die Scheu der Bourgeois 
vor dem Kriege zu beschwichtigen, eine erheuchelte Zuversicht auf den Be— 
stand des Friedens zeigen mußte. Nichts lag ihm in jenem Augenblicke 
ferner als der Wunsch nach Krieg: erst wenn die große Armee des Kaiser— 
reichs wiederhergestellt war, durfte der Streit um die unveräußerlichen 
alten Grenzen von Neuem beginnen. Wiederholt versicherte er den 
europäischen Höfen, daß sich in Frankreich nichts verändert habe, daß er auf 
alle Pläne kriegerischer Größe verzichte und nur noch einen Kampf anerkenne, 
den heiligen Kampf um das Glück der Völker. Niemand glaubte ihm. 
Unaufhaltsam rüstete sich das alte Europa zur Vernichtung des Usurpators, 
und doch mußte er noch eine Weile den Schein bewahren, als ob sein 
Kaiserthum ein Reich des Friedens sei. Nach drei Wochen erst wagte er 
die Vermehrung des Heeres zu befehlen: die Armee, die er 115,000 Mann 
stark vorgefunden, wuchs bis Anfang Juni nur auf 198,000 Mann
	        
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