Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

718 II. 2. Belle Alliance. 
kriegsbereiter Truppen. Das nämliche Gefühl der Unsicherheit zwang ihn 
auch zu einer höchst gewagten Kriegführung. Nach den Erfahrungen 
des letzten Jahres schien bei einem zähen Vertheidigungskriege im Innern 
Frankreichs ein Erfolg nicht ganz unmöglich; doch da der Usurpator 
weder auf eine Massenerhebung rechnen noch sich der Gefahr einer Nie- 
derlage auf französischem Boden aussetzen konnte, so mußte er den An- 
griff auf die Nachbarlande wagen, und für diesen verzweifelten Schlag 
standen ihm nur 128,000 Mann zu Gebote. Was übrig blieb wurde an 
den weiten Grenzen entlang vertheilt — eine völlig nutzlose Zersplitterung 
der militärischen Kräfte; der Argwohn der öffentlichen Meinung erlaubte 
dem Imperator nicht, irgend ein Stück französischer Erde ganz ohne 
Vertheidigung preiszugeben. Erst als der Krieg unvermeidlich ward, ließ 
Napoleon die friedliche Maske fallen und bekannte sich nochmals zu den 
hochmüthigen Gedanken der alten Kaiserpolitik. Sein Kriegsminister Da- 
voust mußte alle die alten Soldaten vom linken Rheinufer unter die 
Fahnen rufen. In seiner Anrede an die Armee sprach der Imperator 
wieder wie einst als der Schirmherr des deutschen Particularismus, 
mahnte zum Kampfe gegen die unersättliche Coalition, die sich bereits 
anschicke die kleinen deutschen Staaten zu verschlingen; eine Proclamation, 
die auf dem Schlachtfelde von Belle Alliance in dem erbeuteten Wagen 
Napoleon's gefunden wurde, verkündete den Belgiern und Rheinländern 
die frohe Botschaft: sie seien würdig Franzosen zu sein! 
Sobald dieser Caesar wieder an die Spitze seiner Praetorianer trat, 
mußte der alte Kampf zwischen Weltherrschaft und Staatenfreiheit unaus- 
bleiblich von Neuem entbrennen. Nach dem Buchstaben des Völkerrechts 
war Napoleon's Schilderhebung allerdings nur ein legitimer Eroberungs- 
krieg des souveränen Fürsten von Elba gegen den Allerchristlichsten König; 
vergeblich suchte Gentz im Oesterreichischen Beobachter durch künstliche 
Sophismen dies unbestreitbare Rechtsverhältniß wegzudeuteln. Aber wie 
durften die Formen des Völkerrechts diesem Gewalthaber zu Gute kommen, 
der sein Leben lang mit Treu und Glauben gespielt, jedes heilige Recht 
der Staatengesellschaft mit Füßen getreten hatte? Den Millionen in 
Deutschland, Rußland, England erschien der rückkehrende Despot nicht als 
ein kriegführender Fürst, sondern schlechtweg als ein blutiger Verbrecher, 
der durch ruchlosen Wortbruch alle Segnungen des schwer errungenen 
Friedens wieder in Frage stellte. Ein Aufschrei des Zorns ging durch 
das preußische Land. Der alte Todfeind war wieder zur Stelle, war wie 
ein hungriger Wolf eingebrochen in die friedlichen Hürden der befreiten 
Völker; das deutsche Schwert mußte ihn nochmals herunterschleudern 
von dem angemaßten Throne — wer hätte das bezweifelt? Dies tapfere 
Volk, das unter den Nackenschlägen des Tyrannen so namenlos gelitten, 
wollte und konnte nichts sehen von allen den rührenden und erhebenden 
Auftritten, welche die Rückkehr des Imperators verschönten, nichts von
	        
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