Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Gneisenau's Denkschrift. 783 
Forderungen im Einzelnen einzugehen versuchte Gneisenau zunächst nur 
das Herz des Czaren für den Grundsatz der Gebietsabtretung zu ge— 
winnen. Er zeigte, daß in der That Frankreich die Schuld an dem neuen 
Kriegsunglück trage; ohne die Hilfe aller energischen Männer Frankreichs, 
ohne die stumpfe Theilnahmlosigkeit der Masse hätte „der geächtete Aben— 
teurer“ niemals den Zug von Cannes nach Paris vollenden können. 
„Europa erwartet von den Verbündeten mit Recht die Bestrafung solcher 
Unthaten und wird mit Erstaunen erfahren, daß man einen neuen 
Utrechter Frieden schließen, die Leiden dieses beklagenswerthen Deutsch— 
lands verewigen will; das wird die Regierungen zur Verzweiflung bringen 
und die Völker erbittern. Wenn von zwei Nachbarn der eine die Ein— 
heit der Staatsgewalt besitzt, physisch und moralisch auf den Angriff ein— 
gerichtet ist, während der andere durch die natürlichen Gebrechen einer 
Bundesverfassung und durch die Gestalt seiner Grenzen strenge auf die 
Vertheidigung beschränkt wird, so läßt sich leicht vorher sehen, welcher von 
Beiden unterliegen wird. Was in den Händen des Einen ein Angriffs— 
mittel ist, wird in der Hand des Anderen ein Mittel zur Abwehr. Die 
bourbonische Regierung kann sich nicht sicherer die Volksgunst gewinnen, 
als wenn sie sich der abenteuerlichen Rachsucht ihrer Nation ganz hin— 
giebt. Ermuthigt durch die Erfahrung, daß seine Grenze auch nach den 
größten Niederlagen unverletzt bleibt, daß die Berechnungen einer eng— 
herzigen Politik ihm unter allen Umständen die Sicherheit seines Gebietes 
gewährleisten, wird das französische Volk bald keine Schranke mehr für 
seinen Uebermuth kennen. Und sollen wir der französischen Partei in 
Deutschland neue Gründe geben zu dem Glauben, daß man mehr ge— 
winnt durch Anschluß an die Eroberungspläne Frankreichs als durch Er— 
füllung seiner Pflichten gegen das Vaterland und die gemeinsame Sache 
Europas? Das mächtige und furchtbare Rußland steht wahrlich zu hoch 
für kleinliche Erwägungen, welche dem großherzigen Charakter des Kaisers 
nicht entsprechen. Bleibt Frankreichs Grenze unverändert, so wird man 
allgemein sagen, England wolle den Continent in neue Wirren stürzen, 
damit er nicht Zeit habe sich gegen die britische Handelspolitik zur Wehr 
zu setzen.“ So der Gedankengang des langen, in mangelhaftem Franzö- 
sisch, doch mit der höchsten rednerischen Kraft geschriebenen Memorandums. 
Gneisenau trug auch kein Bedenken, für Piemont, die Niederlande und 
die kleinen deutschen Staaten die Zulassung zu den Conferenzen zu ver- 
langen, was in den Augen der anderen Großmächte eine arge Ketzerei war. 
Der Czar blieb taub. Auch seine Unterredung mit dem Könige führte 
zu keinem Ergebniß. Dem General dankte Alexander kurz und trocken für 
seine wohlgemeinten eifrigen Bemühungen um die großen Interessen Euro- 
pas") und ließ durch Capodistrias eine ausführliche Widerlegung abfassen, 
  
*) Czar Alexander an Guneisenau 5. September 1815.
	        
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