Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

792 II. 2. Belle Alliance. 
Am nämlichen Tage erneuerten die vier Mächte ihr altes Bündniß. 
England hatte die einfache Verlängerung des Chaumonter Vertrages auf 
zwanzig Jahre gewünscht. Aber Rußland hielt entgegen, daß man Frank— 
reich doch nur während des Ausnahmezustandes der Occupationszeit als 
einen verdächtigen Feind behandeln dürfe, und setzte durch, daß die vier 
Mächte sich, ohne feste Zeitangabe, zur Erhaltung des legitimen Königs- 
hauses und der Charte verpflichteten.) denn von dem Parteifanatismus 
der Emigranten befürchtete der Czar die schwersten Gefahren für Frank- 
reich. Die vier Mächte gelobten einander, durch wiederholte Zusammen- 
künfte der Monarchen oder der Minister die europäische Sicherheit zu 
überwachen. So ward denn der gesammte Welttheil, und Frankreich 
insbesondere, unter die polizeiliche Aufsicht der Coalition gestellt; die Bour- 
bonen durften nicht ruhen bis sie aus dieser, für eine stolze Nation de- 
müthigenden Lage wieder herauskamen und die Aufnahme Frankreichs 
in das Bündniß der großen Mächte durchsetzten. Da die vier Mächte 
sämmtlich, Oesterreich und England nicht ausgenommen, der wilden Leiden- 
schaft der Emigranten mißtrauten, so richteten sie zum Abschied noch eine 
Note an Richelieu, ermahnten ihn die Mäßigung mit der Festigkeit zu 
verbinden, allen Feinden der öffentlichen Ruhe, unter welcher Gestalt sie sich 
auch zeigten, die feste Verfassungstreue entgegenzustellen. Voll schwerer 
Besorgniß verließen die Staatsmänner der Coalition Paris. Keiner von 
ihnen glaubte an die Lebenskraft des alten Königshauses, sie alle schätzten 
die Dauer der bourbonischen Herrschaft nur auf wenige Jahre. Und 
einem solchen Staate, dessen Zukunft völlig unberechenbar erschien, hatte 
das verbündete Europa die beherrschenden Plätze am deutschen Oberrhein 
wieder eingeräumt! 
In der gesammten modernen Geschichte ist nur noch einmal nach 
glänzenden kriegerischen Erfolgen ein Friede geschlossen worden, der sich 
an schonender Milde dem Vertrage vom 20. November 1815 vergleichen 
läßt: der Prager Friede von 1866. Aber was in Prag aus dem freien 
Entschluß, aus der weisen Selbstbeschränkung des Siegers hervorging, das 
führte in Paris der gemeinsame Argwohn der Verbündeten gegen den kühn- 
sten und rührigsten der Siegesgenossen herbei. Der große Augenblick, da 
das seit Richelieu so unnatürlich verrenkte Gleichgewicht Europas wieder- 
hergestellt und den Deutschen ihr altes Erbtheil zurückgegeben werden konnte, 
ward versäumt weil alle Mächte des Ostens und Westens sich begegneten 
in dem Entschlusse die Mitte des Welttheils beständig niederzuhalten. 
Durch schmerzliche Erfahrungen erkaufte sich die deutsche Nation die Er- 
kenntniß, daß sie die Sühne des alten Unrechts allein von ihrem eigenen 
guten Schwerte erwarten durfte. Alle die düsteren Weissagungen Harden- 
berg's, Humboldt's und Gneisenau's gingen wörtlich in Erfüllung. Die 
  
*) Russische Denkschrist über den Bündnißvertrag, 9./21. Oct. 1815.
	        
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