Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Charakter der neuen Bildung. 89 
der Ilm inmitten der Höchstgebildeten des deutschen Volkes die reine 
Waldluft eines ursprünglichen Menschenlebens zu trinken und athmete 
wieder auf von dem Dunste und dem Staube ihrer heimischen Weltstadt. 
Und wie es das Recht des Jünglings ist, Unendliches zu versprechen, nach 
allen Kränzen des Ruhmes zugleich die Hände auszustrecken, so zeigte 
auch die deutsche Nation in jenem zweiten Jugendalter ihrer Dichtung 
ein wunderbar vielseitiges Streben, sie war unermüdlich im Aufwerfen 
neuer Probleme, im Erfinden neuer Kunstformen, versuchte ihre Kraft an 
allen Wissenschaften zugleich, mit einziger Ausnahme der Politik. 
Freilich waren mit dieser eigenthümlichen Entstehung unserer neuen 
Literatur auch ihre Schwächen gegeben. Da der Dichter hier nicht un— 
mittelbar aus den großen Leidenschaften eines bewegten öffentlichen Lebens 
seine Stoffe schöpfen konnte, so gewann die Kritik ein Uebergewicht, das 
der unbefangenen künstlerischen Schöpferkraft oft gefährlich wurde; die 
meisten dramatischen Helden unserer classischen Kunst zeigen einen kränk— 
lichen Zug der Entsagung, der Thatenscheu. Die regellose Freiheit des 
Schaffens verführte die Poeten leicht zu willkürlichen Einfällen, zu ge— 
suchter Künstelei, zu vielverheißenden Anläufen, die keinen Fortgang fanden, 
und es ist kein Zufall, daß der erste unserer Dichter unter allen großen 
Künstlern der Geschichte die meisten Fragmente hinterlassen hat. Die 
eigenartige Begabung durfte sich noch ungestört ausleben in ursprüng— 
licher Kraft, ward noch nicht durch das politische Parteileben über einen 
Kamm geschoren. Stürmisch war die Liebe, zärtlich die Freundschaft, über— 
schwänglich der Ausdruck jeder Empfindung; eine beneidenswerth gedanken— 
reiche Geselligkeit erzog einzelne Männer von allseitiger Bildung, wie sie 
seit den Tagen des Cinquecento der europäischen Welt nicht wieder er— 
schienen waren. Doch mit der Eigenart entfaltete sich auch die Unart der 
freien Persönlichkeit in der Stille dieses rein privaten Lebens. „Lieben, 
hassen, fürchten, zittern, hoffen, zagen bis in's Mark“ — so hieß das 
Losungswort der neuen Stürmer und Dränger; ein unbändiges Selbst- 
gefühl, ein himmelstürmender Trotz ward in dem jungen Geschlechte rege, 
wunderlich abstechend von der Unfreiheit der öffentlichen Zustände. Un- 
berechenbare Launen, persönlicher Haß und persönliche Neigung traten an- 
maßend auf den Markt hinaus; viele Werke jener Epoche sind schon heute 
nur dem verständlich, der die Briefe und Tagebücher ihrer Dichter kennt. 
Eine Literatur von solchem Ursprung und Charakter konnte nicht im 
vollen Sinne volksthümlich werden, konnte nur langsam und mittelbar auf 
die Massen wirken. Während die Gebildeten an den reinen Formen der 
Antike sich begeisterten, blieb das Schönheitsgefühl der Volksmassen, ob- 
gleich sie bessere Schulbildung genossen als ihre romanischen Nachbarn, 
weit stumpfer als in Frankreich und Italien. Eine leidliche Durchbildung 
des Formensinnes ist diesem nordischen Volke nur einmal beschieden ge- 
wesen: in den Tagen der Staufer, da die Pfalzen und Dome des spät-
	        
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