92 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
hochbegabten Kanzelrednern gebrach es ihr nicht; in Holstein blieb es noch
nach Jahrzehnten unvergessen, mit welcher gewaltigen Beredsamkeit Claus
Harms, der feurige lutherische Eiferer, im volkstümlichen Platt zu seinen
Bauern sprach. Im Norden galt der Wandsbecker Bote, der gemütvolle
alte Claudius, am Oberrhein der fromme Jung Stilling als der Führer
der Stillen im Lande. Beide starben schon zu Anfang der Friedensjahre,
doch ihr Wort und Vorbild wirkte mächtig fort. Der Pietismus und die
streng konfessionellen Parteien gewannen mehr und mehr Boden, zumal
auf dem flachen Lande, bis sich endlich das Kirchenregiment selber genötigt
sah mit diesen neuen Mächten zu rechnen.
Der natürliche Rückschlag gegen die rationalistische Flachheit war ein-
getreten; aber schon in diesen ersten Anfängen eines kräftigen kirchlichen
Lebens verrieten sich krankhafte Bestrebungen, die dem konfessionellen
Frieden unseres paritätischen Volkes verderblich werden mußten. Während
manche der Rechtgläubigen den freieren Richtungen des Protestantismus
mit unchristlicher Härte begegneten und die evangelische Union leiden-
schaftlich bekämpften, fühlten sie sich, bewußt oder unbewußt, zur römischen
Kirche hingezogen. Einer der namhaftesten lutherischen Pietisten, der bern-
burgische Prinzenerzieher Beckedorff veröffentlichte im Jahre 1818 Briefe
über die Wiedervereinigung der christlichen Kirche und fand, obgleich die
römische Gesinnung aus jeder Zeile sprach, den warmen Beifall seiner
Glaubensgenossen — bis er einige Jahre später selber zur römischen Kirche
übertrat. Die christliche Religionsgeschichte des Konvertiten Friedrich Stol-
berg, ein durch und durch katholisches Buch, ward in den Konventikeln
der evangelischen Pietisten laut gepriesen, und der Schwiegersohn des
Wandsbecker Boten, der wackere Buchhändler Perthes, ein treuer Prote-
stant, verbreitete die Schrift mit heiligem Eifer. Ein Herzensfreund Jung
Stillings, Max von Schenkendorf, der tapfere Sänger des Befreiungs-
krieges, feierte sogar in schwärmerischen Liedern den fanatischen Führer
der katholischen Liga: „fester treuer Max von Bayern“. Und dazu der
Zauberspuk, die Geisterseherei, die weissagende Verzückung aller der Schwarm-
geister, welche bald hier bald dort das Volk beunruhigten. Die meisten
von ihnen standen mit den böhmischen Brüdern irgendwie in Verbindung;
ihr Weizen blühte da am üppigsten, wo der Boden durch den Rationa-
lismus am tiefsten umgepflügt war. Jene unbestimmte Aufregung, die
sich immer in Zeiten großen Schicksalswechsels der Volksmassen bemächtigt,
wirkte zusammen mit den Torheiten der Naturphilosophen. Wie einst
nach Luthers Auftreten die Bauern von dem tausendjährigen Reiche
träumten, so sprachen die Erweckten nach Napoleons Sturz von dem
Falle des schwarzen Engels und des Tieres mit den sieben Hörnern. In
allen Ländern deutscher Zunge, vom Oberrhein bis nach Livland, tauchten
einzelne geheimnisvolle Teufelsbanner und fromme Schlafwandler auf;
die Schwärmerei steigerte sich oft bis zum Wahnsinn. Frau von Krüdener