Voß und Stolberg. 97
Gleich der evangelischen ward auch die katholische Kirche durch die
Ausschweifungen rohen Aberglaubens heimgesucht. In München stand die
Hochburg der katholischen Magier. Dort in Bayern waren die Teufel—
austreibungen des verstorbenen Gaßner noch unvergessen; jetzt rühmte
sich Baader einer vom Teufel besessenen Tochter. In Franken zog ein
Bauernkardinal mit einer Dirne, die den Heiland unter dem Herzen trug,
durch die Dörfer; droben im Schwarzwälder Alpgau unter den groben
Hotzen wurde die Schwarmgeisterei der alten Salpeterer wieder rege; aus
Osterreich kam die fanatische Sekte der Pöschelianer nach Bayern hinüber,
ein wüstes Gesindel, das selbst vor dem religiösen Morde nicht zurückschrak
und nur durch harte Strafen gebändigt werden konnte. Unter den zahl-
losen frommen Zauberern tat sich ein vornehmer Priester, Fürst Alexan-
der Hohenlohe, durch kecke Zuversicht hervor. Papst Pius, der seinen
Mann kannte, meinte achselzuckend: questo far'’' dei miracoli! — als er
vernahm, wie der Fürst durch die Kraft des Gebetes sogar aus der Ferne
Todkranke heilte, und das fränkische Landvolk ihm in Scharen zu-
strömte. In einem stolzen Aufrufe redete der Wundertäter die Fürsten
des heiligen Bundes an: nicht mehr durch Waffen würde die Revolution
besiegt, die Erziehung müsse verwandelt, die Jugend zurückgeführt werden
in den Schoß der Kirche. Der fromme Wahn wirkte hier ebenso unwider-
stehlich ansteckend, wie unter den Protestanten: sogar Sailer betete einmal
gläubig am Bette der Wunder-Nonne von Dülmen.
Die unversöhnliche Härte der kirchlichen Gegensätze, die ganze Fried-
losigkeit unseres religiösen Lebens trat mit erschreckender Klarheit zu Tage,
als auf dem heißen Boden Heidelbergs wieder einmal ein literarischer Zank
ausbrach. In der kleinen Stadt hausten so viele namhafte Vertreter grund-
verschiedener Richtungen eng bei einander; der Kampf der Meinungen
ward dort stets mit gehässiger Bitterkeit geführt. Um seinen Gegnern Daub
und Creuzer die Wage zu halten, hatte Paulus die Zeitschrift Sophro=
nizon gegründet; geschickt redigiert gewann sie bald Ansehen durch frei-
mütigen Tadel mancher Mißstände in Staat und Kirche. Der kleinstaatliche
Liberalismus, der von den Bedingungen der Macht des Staates nichts
ahnte, und der Rationalismus, der von dem religiösen Gefühle des gläu-
bigen Gemüts nichts wissen wollte, fanden da selbander ihren Sprechsaal.
Als nun Graf Friedrich Stolberg in Adam Müllers hochkonservativem
Staatsanzeiger einen scharfen Aufsatz über die Verirrungen des Zeitgeistes
veröffentlicht hatte, brach Voß im Sophronizon (1819) gegen den Jugend-
genossen los. „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?"“ fragte er grimmig.
Ein Greis gegen den Greis wollte er Zeugnis ablegen, weil er bald jen-
seits, „wo kein Ritter noch Pfaff schaltet“, sich verantworten müsse. Darum
meinte er sich jeder Treue, jeder Anstandspflicht gegen den alten Freund
entbunden, dem er vor vierzig Jahren seine Odyssee gewidmet hatte, und
schilderte mit herzloser Roheit, selbst das häusliche Leben schamlos auf-
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 7