102 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Noch niemals hatte ein deutsches Buch die schlimmste Schwäche der
modernen Demokratie, den neidischen Abscheu gegen alles was über die ge-
meine Mittelmäßigkeit emporragt, so unverblümt ausgesprochen. Sehr
nachdrücklich wies der volkstümliche Historiker Alexander den Großen zu-
recht, weil dieser „Mensch von Staub und Erde zerschmetterte Völker zum
Fußgestell seines Ruhmes machte“; den Helden der Kreuzzüge hielt er die
zornige Frage entgegen: „mit welchem Rechte wurde Palästina erobert?"
Der ganze Verlauf der Weltgeschichte zeigte ihm in entsetzlicher Eintönig-
keit stets das nämliche traurige Schauspiel: wie die allezeit unschuldigen
Völker die Jahrtausende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen
mißhandelt und zu gemeinschädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann
gar mit dem Mittelalter „zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit
und der Finsternis — ein weder erfreuliches noch sehr interessantes Zeit-
alter“" — über die unglückliche Menschheit hereinbrachen, bis darauf end-
lich durch die Volksmänner der amerikanischen und der französischen Re-
volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeist zu seinem
Rechte kam.
Die naive Selbstverliebtheit des philosophischen Jahrhunderts lebte
hier wieder auf, nur daß sie jetzt ein politisches Gewand anlegte. Durch
Rottecks Weltgeschichte wurde das republikanische Staatsideal zum ersten
Male den deutschen Mittelklassen gepredigt. Die Begeisterung für die junge
Republik des Westens hatte sich zur Zeit des amerikanischen Unabhängig-
keitskrieges doch nur auf die engen Kreise der gebildeten Jugend beschränkt
und war dann während der Stürme der napoleonischen Tage ganz in
Vergessenheit geraten. Jetzt lenkte Rotteck die Blicke der Verstimmten
wieder abendwärts. „Im Westen“, rief er aus, „in der jugendlichen neuen
Welt erbaut sich das natürliche, das vernünftige Recht sein erlesenes Reich."
Zwar fügte er als ein gesetzliebender Staatsbürger beschwichtigend hinzu:
„nicht eben die republikanische Form ist's, die wir die Sonne dieses Tages
nennen, nein, nur der republikanische Geist“; er behauptete sogar, in ver-
nünftigen Monarchien könne sich der republikanische Geist am kräftigsten
betätigen. Da indes sein Musterstaat auf der republikanischen Idee der
Volkssouveränität ruhte, so blieb den Lesern doch der Eindruck, daß die
Republik der allein vernünftige Staat, „der Freistaat" schlechthin sei:
beide Ausdrücke brauchte man bereits als gleichbedeutend. Diese Lehre
fand um so leichter Anklang, da jedermann schon auf der Schulbank die
Philologenfabel von der wunderbaren Freiheit der Republiken des Alter-
tums gelernt hatte.
Ebenso verführerisch erschien den Lesern die parteiisch gefärbte Dar-
stellung der jüngsten Vergangenheit. Wie wunderbar mächtig waltete doch
die sagenbildende Kraft des Volksgeistes noch in diesem bildungsstolzen
Jahrhundert! Das Bild der selbsterlebten allerneuesten Ereignisse verschob
und verwirrte sich in dem Gedächtnis der Völker, sofort nach dem Friedens-