114 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
burtsadel. Aber in seiner „Theologischen Grundlegung der Staatswissen—
schaft“ wurde doch nur die Hallersche Doktrin wiederholt und mit einigen
theologischen und naturphilosophischen Flittern neu ausgeschmückt. Noch
willkürlicher als Haller erkünstelte er sich eine natürliche Gliederung der
Gesellschaft und unterschied bald den Lehr-, Wehr= und Nährstand als
die Vertreter von Glaube, Liebe, Hoffnung, bald nach der Formel „Trau,
schau, wem“ den Adel, die Bürger, die Regierenden. Wie Haller leugnete
er den Unterschied von Staats= und Privatrecht und versicherte, jeder Staat
setze sich ins Unendliche aus Staaten zusammen. Sein Ideal war der
vernünftige Feudalismus; den Widerspruch zwischen Politik und Recht dachte
er zu lösen durch die Macht des Glaubens, der zugleich Gesetz sei.
So ward denn alles wieder in Frage gestellt, was die deutsche Staats-
wissenschaft seit anderthalb Jahrhunderten gedacht hatte, seit Pufendorf sie
von dem Joche der Theologen erlöste; die politische Doktrin sank zurück in
die theokratischen Vorstellungen des Mittelalters. Friedrich Schlegel feierte
die Kirche als die erste aller Innungen, nach ihrem Vorbilde sollten sich
alle anderen Korporationen der bürgerlichen Gesellschaft neu gestalten.
Baader nannte den Lehr-, Wehr= und Nährstand die drei Staaten jeder
Nation und verwarf den Ausdruck „der Staat“ als eine sündliche moderne
Erfindung. „Korporation, nicht Association“ — so lautete das Schlagwort
der politischen Romantiker; die meisten verbanden damit nur die unbestimmte
Vorstellung einer schwachen Staatsgewalt, welche durch Zünfte, ritterliche
Landtage, autonome Gemeinden eingeschränkt, durch die Kirche geistig be-
herrscht werden sollte. Der nüchterne Gentz fühlte sich wildfremd und un-
heimlich in dieser Traumwelt der theologisierenden Politik und gestand seinem
Freunde Müller: hier vermisse er alles, was die Wissenschaft ausmache,
Klarheit, Methode, Zusammenhang. Sein weltlicher Sinn empörte sich,
wenn ihm der Freund beteuerte, der Weltfriede hänge von der Erkenntnis der
Menschwerdung Gottes ab. Erst als er die Vorboten der nahenden Revolution
zu erkennen glaubte, da schrieb er in einem Anfall nervöser Angst: „Sie haben
vollkommen Recht, alles ist verloren, wenn nicht die Religion pas seulement
comme foi mais comme loi hergestellt wird.“ Aber die Zerknirschung hielt
nicht vor; der erste der deutschen Publizisten stand doch zu hoch, um die
Erkenntnis der weltlichen Natur des Staates auf die Dauer aufzugeben.
Eine Kluft von Jahrhunderten schien zwischen den romantischen Staats-
lehren und den liberalen Doktrinen zu liegen. Auf Seite der Konservativen
stand noch die große Mehrzahl der literarischen Talente, die Überlegenheit
wissenschaftlicher Bildung; der Liberalismus zeigte trotz seiner jugendlichen
Unreife doch mehr Sinn für die Bedürfnisse der Gegenwart, für die be-
rechtigten Ansprüche der erstarkenden Mittelklassen. Wer zwischen diesen
schroffen Gegensätzen zu vermitteln suchte, erregte nur Verdacht. Selbst
der ehrliche Steffens kam in den Ruf reaktionärer Gesinnung, weil er in
seinen geistreich verschwommenen politischen Schriften zwar landständische